«Er hat sich schuldig gemacht», entgegnete Salomo. «Der Sabbat ist die heilige Zeit, in der Gott während der Ruhe eine neue Welt erschafft. Das war noch vor dem Gesetz Israels und ist seine Rechtfertigung. Wer es nicht achtet, weiß, was er sich damit zuzieht.»
«Dieser Geselle hat das Gesetz der Baustelle befolgt.»
«Die muß nicht gegen das Israels sein. Verantwortlich für diese Tragödie bist du, Meister Hiram.»
Der Baumeister ging durch menschenleere Baumreihen am Ufer des Jordan. Die Öfen waren erkaltet, wurden seit einer Woche nicht mehr befeuert. Die Fronarbeit war eingestellt worden. Die Arbeiter, die in Zelten untergebracht waren, vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen. Auf dem Felsen von Jerusalem hatte die Arbeit der Maurer aufgehört. Der königliche Palast thronte prächtig und trostlos.
Die von Jerobeam vorgetragene Beschuldigung war vom Schreiber Elihap aufgesetzt worden und führte zu einem Prozeß. Hatte Meister Hiram in den Augen der treuen Gläubigen den Sabbat geschändet und die heiligsten Werte Israels mit Füßen getreten? War er nicht schuldiger als der gesteinigte Geselle?
Der Hohepriester hatte sich Jerobeams Klage angeschlossen, so daß Salomo gezwungen wurde, bei diesem Gerichtsverfahren den Vorsitz zu führen. Wer hätte an dessen Ausgang Zweifel gehabt? Hiram hatte die Baustellen geschlossen. Den Meistern hatte er gesagt, daß das gewaltige Unterfangen vielleicht scheitern würde. Falls der Oberbaumeister verurteilt wurde, würden weder Lehrlinge noch Gesellen weiter Befehle von ihm entgegennehmen. Doch der Baumeister forderte, daß kein Aufstand die von Salomo auferlegte Ordnung störte.
Da der Zugang zu dem unterirdischen Raum von Kaleb und Anup bewacht wurde, konnte sich Hiram in die Einsamkeit der Orte zurückziehen, die er lieben gelernt hatte, Orte, an denen es wenig Geschrei, Gesang, Ermunterungsrufe gab. Die Leere bekam ihnen nicht gut.
Lediglich der Klang der Werkzeuge machte sie schön. Ohne ihn blieben nur die Spuren menschlichen Leids und menschlicher Bemühungen um Vollkommenheit.
Hiram ergab sich nicht in das widrige Geschick. Ein Meister, der aus dem Haus des Lebens hinausgeworfen wurde, war seines Amtes unwürdig und gab die Arbeit auf. Wie auch immer die Umstände, die Hindernisse waren, die Schuld war bei ihm zu suchen. Er war dumm gewesen, hatte es nicht verstanden, Salomos Listen zu vereiteln, der nach der Fertigstellung des Palastes einen Weg gefunden hatte, sich eines lästigen Baumeisters zu entledigen.
Sein Geschick zu ändern… ja, dazu war ein ägyptischer Schüler, der in die Geheimnisse eingeführt worden war, in der Lage. Er verließ sich dabei auf die unsterbliche, geistige Kraft, die ihm nichts und niemand genommen hatte. Er würde den Spiegel seines Wesens neu ausrichten, damit die Sonnenstrahlen anders einfielen. So konnte man seinen Lebenslauf verändern. Doch Hiram würde nicht von dem Weg abgehen, der ihm gegen seinen Willen vorgezeichnet worden war. Es gab nicht nur den Befehl des Pharaos und den Willen Salomos, sondern auch die Herausforderung, die sich Hiram selbst gestellt hatte. Wie gern hätte er diesen Tempel entstehen sehen, damit er das Wissen, das ihm vermacht worden war, in ihn einbauen und beweisen konnte, daß seine Kunst allen Widrigkeiten trotzte.
Ausgerechnet der Sabbat-Ritus und das Eingreifen haßerfüllter Menschen machten ihn ohnmächtig, ja, wahrhaft stumm. Die Genugtuung, daß er floh, die verschaffte er ihnen jedoch nicht.
Hiram bereitete sich auf sein Erscheinen vor dem Gericht vor, als ein beglückter Kaleb ihm ein Lamm brachte.
«Sieh dir das an, mein Fürst! Es ist noch warm… ist gerade gestorben. Ein Gottesgeschenk! Jetzt muß es nur noch mit roter Tusche an einer kaum sichtbaren Stelle gekennzeichnet werden.»
«Warum das?»
«Ein Geschenk des Himmels, wie ich schon gesagt habe! Kennzeichne es und überlasse mir den Rest. Begnüge dich damit, am Leben zu bleiben.»
Kaleb wollte sich nicht näher erklären. Als seine Bitte erhört worden war, lief er an einen Ort, den nur er kannte, und drückte das Fell an sich, als ob es sich um einen unschätzbaren Wert handelte.
Salomo hielt Audienz in Davids altem Palast. Hiram in der neuen Gerichtshalle zu empfangen, das ging nicht an, denn diesen Ort gab es vor der Einweihung des Tempels rechtlich gar nicht.
Der Tempel… Wer würde den nach der Verurteilung des Baumeisters bauen? Wie würde sich die Bruderschaft verhalten, die Hiram Vertrauen schenkte? Doch Hiram hatte das Gesetz gebrochen, und Salomo konnte ihn nicht freisprechen, ohne die geheiligte Ordnung zu leugnen, die Israel Leben schenkte. Verhielt es sich im Lande der Weisheit, in Ägypten, nicht auch so, wo das himmlische Gesetz der Maat unantastbare Grundlage der Kultur war?
Der König war gezwungen, einen außergewöhnlichen Baumeister zu richten und zu bestrafen, ohne den Jahwes Heiligtum ein Rohbau blieb. Die Lebensregel, die er wahren mußte, zwang ihn, ein Werk zu zerstören, das seiner Herrschaft einen Sinn gegeben hätte.
Als Gefangener auf dem eigenen Thron, als unversöhnlicher Gegner dessen, der sein Freund hätte sein sollen, fühlte sich Salomo von seiner Weisheit im Stich gelassen. In welche Wüste, in welche unzugängliche Schlucht war sie geflohen? Entfernte sie sich nicht mit jedem Augenblick weiter von Jerusalem und strebte zurück ins Land der Pharaonen?
Der Hohepriester war im Begriff, den König zu besiegen. Wenn man Hiram los war, würde sich Salomo in seinen Felsenpalast zurückziehen und glauben, daß er über ein Volk herrschte, von dem ihn mehr und mehr absonderte.
Zadok stand neben dem Thron. Der Hohepriester hatte die rituellen Gewänder angelegt und hielt sich betont an der Gesetzesrolle fest. Er erinnerte an die Bedeutung des Sabbat. Im Namen der Religionsachtung forderte er Hirams Steinigung, denn der hatte sich der Gotteslästerung und der Zersetzung schuldig gemacht. Salomo durfte auf keinen Fall nachsichtig sein. Der Baumeister sollte mit dem Leben für den Tod eines Gesellen zahlen, der seinem Befehl gehorcht hatte.
Zadok hatte zahlreiche weltliche und geistliche Würdenträger zusammengerufen, die ihn unterstützten und von dem Wunsch beseelt waren, Rache an einem fremdländischen Oberbaumeister zu nehmen, der sie unablässig geringgeschätzt hatte. Keine Weisheit der Welt würde seinem königlichen Beschützer noch zu Hilfe kommen.
Hiram strebte zur Gerichtshalle. Er dachte nicht an den vorab bekannten Ausgang, sondern an den Gesellen, der vor seinen Augen hingerichtet worden war.
Der Oberbaumeister trug ein weißes Gewand und auf der Brust ein goldenes Pektoral. Der Stab in seiner Rechten symbolisierte seine Amtsgewalt über die Bruderschaft.
Der Oberhofmeister des Palastes mit dem Schlüssel auf der Schulter führte den Angeklagten vor das Tribunal.
Als Hiram erschien, stieg aus jeder Brust ein erstaunter Seufzer. Zadoks Miene veränderte sich. Bleich und mit zusammengepreßten Lippen erkannte er, daß dem Baumeister eine besondere Gnade zuteil geworden war. Und wie er sahen alle Anwesenden, wie der Urbaumeister, den der Prophet Hesekiel angekündigt hatte, in Hiram Gestalt annahm.
Salomo strahlte, er wußte, daß ihn seine Weisheit nicht verlassen hatte.
«Seht euch diesen Baumeister gut an», befahl er. «Den darf keiner richten, denn er trägt den Stab, mit dem der vom Himmel gekommene Erbauer den künftigen Tempel ausgemessen hat. Meister Hiram läßt das Wort Jahwes Stein werden. Er bewahrt das Werkzeug seiner Schöpfung auf.»
Der Baumeister, der die ganze Schwelle ausfüllte, schwenkte den Prophetenstab. Und alle verneigten sich mit Ausnahme von Salomo.
Kapitel 36
Salomo las Elihaps mit Zahlenkolonnen gespickte Berichte noch einmal. Die Berechnungen trogen nicht. Die Schatullen leerten sich schneller als vorhergesehen. In einem knappen Jahr würde die königliche Schatzkammer leer sein und der Tempel noch weit entfernt von der Fertigstellung. Falls sich das im Volk herumsprach, ob es dann zu Aufständen kam?