«Mich plagen andere Sorgen. Ruhe dich aus, Nagsara. Du bist erschöpft.»
«Nein… ich komme mir stark vor. Ich möchte aufstehen und dir dienen.»
«Keine Dummheiten. Vertraue dich den Händen deiner Dienerinnen an.»
«Aber ich brauche deine.»
Salomo ließ sich nicht rühren.
«Die Verwaltung des Landes erfordert fast die ganze Zeit meine Anwesenheit.»
Der jungen Frau schnürte sich die Kehle zusammen. Sie wollte nicht glauben, daß sie scheitern könnte.
«Wann sehe ich dich wieder?»
«Ich weiß es nicht.»
«Willst du damit sagen, daß… du mich verstößt?»
«Du bist die Tochter des Pharaos und meine Gemahlin. Durch deine Anwesenheit hat Siamun die Geschicke Ägyptens mit denen Israels verbunden. Ich werde weder dieses Bündnis noch unseres brechen und dich niemals verstoßen.»
Hoffnung trotz des schwarzen Himmels. Nagsara geriet in Begeisterung.
«Dann ist deine Liebe noch nicht tot… Erlaube mir, an deiner Seite zu bleiben. Ich will schweigen, ich will noch flüchtiger als ein Schatten, noch durchsichtiger als ein Sonnenstrahl, noch lauer als die Herbstbrise sein.»
Salomo streckte Nagsara die Hände hin, die sie leidenschaftlich küßte.
«Nagsara, ich kann dich nicht anlügen. Ich habe dich geliebt, doch diese Flamme ist erloschen. Die Leidenschaft ist geflohen wie ein Pferd, das sich in die großen Weiten verliebt hat. Wie bei meinem Vater springt mein Verlangen von Hügel zu Tal, von Anhöhe zu Gipfel. Keine Frau wird mich jemals ganz besitzen.»
«Und ich besiege meine Rivalinnen! Ich zerreiße sie mit den Nägeln und werfe ihre Kadaver zum Abfall der Gehenna!»
«Beruhige dich, liebe Gemahlin. Haß nährt keine Liebe.»
«Mir ist nur deine Zuneigung wichtig. Ich werde all meine Kraft darauf verwenden, sie zu erlangen.»
«Du hast meine Achtung.»
«Die reicht mir nicht, und sie wird mir niemals reichen.»
Salomo entfernte sich. Wenn er doch die gleiche Leidenschaft wie die junge Ägypterin empfinden könnte! Doch welcher Mensch vermochte es, es mit dem Tempel aufzunehmen? Denn nichts anderes erfüllte das Herz des Königs. Nur ihm würde von jetzt an seine Liebe gehören. Die Lust war nur eine flüchtige Erregung und eine Zerstreuung des Körpers. Der Tempel verlangte Israels ganzen Herrscher.
Als er ihr Schlafgemach verlassen hatte, beschloß die Königin trotz ihrer Schwäche, die Flamme zu befragen. Wie viele Lebensjahre würde sie ihr dieses Mal rauben, wenn sie ihr die Wahrheit enthüllte?
Am Ende ihrer Hellseherei fiel Nagsara in Ohnmacht und war mehrere Stunden lang bewußtlos.
Als sie erwachte, wußte sie Bescheid.
Es war nicht das Gesicht einer Rivalin, das sie in der bläulichgoldenen Flamme des Jenseits gesehen hatte, sondern ein riesiges Bauwerk mit glänzenden Steinen, das über einer jubelnden Stadt thronte.
Jerusalems Tempel. Salomos Tempel.
So hatte also Jahwes Heiligtum in Salomo alle Zärtlichkeit für die Frau abgetötet, die ihr Leben für ihn hingab. Wie konnte man Tag für Tag gegen ein Wesen aus Stein kämpfen, das immer mächtiger wurde, wenn man nicht den traf, der es wachsen ließ, den Baumeister Hiram?
Und nun wandte sich Nagsara um Hilfe an die Göttin Sechmet, die Schreckliche, die Zerstörerin, die Verbreiterin von Krankheiten.
Kapitel 40
«Der Tempel ist fertig», verkündete Hiram. «Sechs Jahre lang hat meine Bruderschaft an dem großen Werk gearbeitet. Heute, König von Israel, wollen wir ihn dir übergeben.»
Salomo erhob sich, stieg die Stufen der Estrade hinunter, auf der er thronte, und blickte seinem Baumeister in die Augen.
«Möge Gott seine Diener beschützen. Führe mich hin zu Seiner Wohnstatt, Meister Hiram.»
Nebeneinander traten die beiden Männer aus dem Palast, überquerten den großen Hof, der in gleißende Sonne gebadet lag, betraten den geheiligten Bezirk und schlugen einen Durchgang ein, der die Wohnstatt des Königs mit der Jahwes verband.
Vor zwei zwanzig Ellen hohen Bronzesäulen, deren Bronzekapitelle ringsum mit Granatäpfeln verziert waren, blieben sie stehen.
«Diese Säulen sind innen hohl», erläuterte Hiram, «und sie tragen nichts anderes als die Früchte, die die abertausend Reichtümer der Schöpfung enthalten.»
Der Oberbaumeister dachte an den Baum, der Osiris’ Leichnam beschattet hatte. In diesem Gott hatte die Auferstehung den Tod besiegt. Wer wie in Ägypten dem Heiligtum zustrebte, dem zeigten die beiden Säulen ähnlich wie die Obelisken vor dem Eingangpylon ägyptischer Tempel, daß man für die äußere Welt sterben, zwischen den senkrechten Säulenschäften hindurchgehen und unter den abgebildeten Granatäpfeln neu geboren werden mußte, wenn man wie eine reife Frucht in der Herrlichkeit des Geheiligten erstrahlen wollte.
Salomo näherte sich der Säule zur Rechten und legte ihr sein Siegel auf.
«Hier soll Gott für immer seinen Thron aufstellen», bekräftigte er. «Darum nenne ich dich. Jakin.»
Dann machte er es mit der Säule zur Linken ebenso.
«Möge sich der König der Kraft Gottes erfreuen! Darum nenne ich dich Booz.»
Für den Herrscher erhoben sich die beiden Säulen wie Lebensbäume, deren Strahlen sich zu dem Universum öffneten, von dem er geträumt und das hier vor seinen Augen Gestalt angenommen hatte. Mittels seines Genies hatte Hiram die Rückkehr ins Paradies ermöglicht, dem gebenedeiten Ort vor dem Sündenfall.
Hinter dieser Grenze kam ein Raum, der zwanzig Ellen breit und zehn Ellen lang war und keinerlei Gegenstände aufwies, dessen Wände jedoch mit gemeißelten Blumen, mit Palmen und geflügelten Löwen verziert, die mit lauterem Gold überzogen waren und im lebendigen Licht funkelten. Auf diese Weise hatte Hiram den Saal des ägyptischen Tempels umgesetzt, der dort vor dem geheimen Heiligtum kam.
«Dieser Ort soll ulam heißen, ‹der, der vorn ist›», entschied Salomo. «Hier sollen sich die Priester reinigen.»
Der Raum war durch eine hölzerne Trennwand abgeschlossen. In ihrer Mitte befand sich eine Tür, deren schwere Flügel aus Zypressenholz der König aufstieß.
Er sah einen großen Saal von vierzig Ellen Länge, zwanzig Ellen Breite und dreißig Ellen Höhe. Die mit Stein vergitterten Fenster ließen ein schwaches Licht durch. Salomo gewöhnte die Augen daran. Er bemerkte, daß die Wände mit Zedernholz getäfelt waren, mit geschnitzten Blumengirlanden und goldenen Palmen. Der Türsturz war ein Dreieck, auf dem Fußboden lagen Dielen aus Zypressenholz.
Hiram hatte links vom Eingang fünf goldene Leuchter aufstellen lassen und fünf rechts davon. In der Mitte standen nebeneinander ein goldener Altar und ein Bronzetisch. So hatte er die Saalmitte umgesetzt, wo der ägyptische Pharao Opfergaben entgegennahm.
Salomo zog die Schuhe aus.
«Wer diesen Raum, den hêkal betritt, soll das mit bloßen Füßen tun. Auf den Altar stelle man Weihrauch und Duftsalben, damit sich Gott jeden Tag von der zarten Essenz der Dinge nähren kann. Auf den Tisch kommen zwölf Schaubrote. In die Mitte der Tempelhalle stelle man einen siebenarmigen Leuchter, dessen Licht das geistige Geheimnis des Lebens symbolisiert.»
Salomo erlebte Überraschung auf Überraschung. Hiram hatte nicht nur einen vollendeten Tempel errichtet, sondern ein Geist gab dem König durch ihn die Worte ein, mit denen er die Teile des Gebäudes benannte.
Vor einem Vorhang, der den hêkal vom letzten Raum des Tempels trennte, blieb er unbeweglich stehen.
«Liegt der hier im Dunkel?»
«Dorthin dringt kein Licht», erwiderte Hiram, der sich vom heiligsten Raum, dem geheimen Ort, an dem sich der Pharao mit der Gottheit unterhielt, hatte inspirieren lassen.