Salomo bewunderte Meister Hirams Schöpfung. Das noch rauchende, eherne Meer hatte eine Nacht der Leiden und des Unglücks hinter sich, in der es geschaffen worden war. Als man Salomo die Katastrophe meldete, war er aus Jerusalem zu den Gießereien am Jordanufer geeilt.
Mehr als fünfzig Arbeiter waren tot, an die hundert hatten schlimme Verbrennungen davongetragen. Doch das eherne Meer hatte die Probe siegreich bestanden. Von einem Genie entworfen, würde die Reinigungsschale mit den zwölf Stieren von nun an eines der größten Weltwunder sein, das menschliche Hand je erschaffen hatte.
Aus Verwüstung war Schönheit geboren.
«Wo steckt Meister Hiram?» fragte der König den Bewacher der Gießereien.
«Das weiß niemand. Er hat Hilfe organisiert, dann ist er verschwunden.»
«Man bringe das Werk auf den Vorhof des Tempels. Und paßt auf, daß es keinen Schaden nimmt.»
Salomo befahl einem Trupp Soldaten, die zu seiner Leibwache gehörten, auf der Baustelle zu bleiben. Kein Soldat durfte ihn begleiten, denn er, er allein, mußte den Baumeister zurückholen.
Er wanderte den Fluß entlang und gelangte zu einer Mauer aus Schilfrohr. Er wußte, daß der Tod von Menschen, für die er zu sorgen hatte, Meister Hiram schwer getroffen und er sich in die fernste Einöde geflüchtet hatte. Salomo schob den Vorhang aus Pflanzen beiseite und wagte sich in eine feindselige Welt, wo sich kleine Fleischfresser um Vogelnester stritten. Etliche geknickte Stengel zeigten dem Herrscher, daß der Oberbaumeister genau diesen Weg eingeschlagen hatte. Als Jüngling hatte der König an diesen abgeschiedenen Orten gejagt und von Weisheit geträumt.
Als er auf einem Hügel aus roter Erde stand, der sich über dem Hibiskus-See erhob, einer kleinen Wasserfläche, gesäumt von duftenden Pflanzen, da erblickte Salomo Hiram. Er war nackt und wusch sich mit Natron.
Der König ließ die Halme knistern. Hiram hob den Kopf, bemerkte den Eindringling, ließ jedoch nicht von seinem Tun ab. Nachdem er sich gewaschen hatte, zog er die weiß-rote Tunika an, dann setzte er sich an den Teichrand. Salomo gesellte sich zu ihm und nahm neben ihm Platz.
«Ein gewaltiger Sieg, Meister Hiram. Das eherne Meer ist ein Wunder.»
«Meine schlimmste Niederlage. Durch meine Schuld sind Menschen gestorben.»
«Du irrst. Ich bin überzeugt, daß sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Wir werden es beweisen und die Schuldigen bestrafen.»
«Ich hätte es voraussehen und eine Falle stellen müssen.»
«Du bist auch nur ein Mensch. Warum nimmst du alles Mißgeschick auf dich?»
«Diese Baustelle war meine. Das Unglück ist meine Schuld.»
«Du bildest dir zuviel ein. Ist dein Meisterwerk nicht Wirklichkeit geworden?»
«Der Preis ist zu hoch. Kein Werk ist den Verlust von Menschen wert. Ich habe diese Männer geliebt. Sie sind meine Brüder gewesen. In meinen eigenen Augen bin ich für immer unwürdig geworden. Das eherne Meer macht mich unrein, und diesen Fleck kann nichts mehr tilgen.»
«In meinen Augen hast du das angestrebte Ziel erreicht. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Aber du hättest mich nicht belügen sollen.»
Der Baumeister wandte ihm kurz den Kopf zu.
«Du bist beschnitten», fuhr Salomo fort. «Wenn du Hebräer wärst, wäre dies das sichtbare Zeichen des Bundes mit Gott. Tyrer sind nicht beschnitten. Und du bist weder Tyrer noch Hebräer. Mit Ausnahme meines Volkes praktizieren diesen heiligen Ritus nur Ägypter von hohem Rang. Du hast mir deine Herkunft verschwiegen. Wie kann ich jemals zugeben, daß ein Ägypter Jahwes Tempel erbaut hat? Ich müßte dich eigenhändig töten. Hast du in die Mauern des Heiligtums etwa heimlich etwas Heidnisches eingebaut, das ihn entweiht?»
«Und wer strebt nach Weisheit, Majestät? Dann solltest du wissen, daß sie das verborgene Licht im Herzen ägyptischer Tempel ist. Ich bin in jenem Land von den Nachfahren der Pyramidenerbauer unterwiesen worden. Sie haben meinen Geist geformt. Amun oder Jahwe… die Namen des Einen unterscheiden sich, Er aber bleibt. Weisheit ist Licht, nicht Lehre. Nichts kann sie trüben. Wer sie bei Beginn der Morgenröte vor seiner Tür sitzend verehrt, wird sie vielleicht am Abend finden. Hoffentlich hat mir Gott erlaubt, den Lehren der Vorfahren treu zu bleiben und dich trotzdem nicht zu verraten.»
«Weisheit ist mir lieber als Zepter und Thron», sagte Salomo. «Sie ist mir lieber als Reichtum. Mit ihr kann sich kein Schatz der Welt vergleichen. Alles Gold von Saba ist vor ihr nur ein Sandkorn. Sie ist mir lieber als Schönheit und Gesundheit, denn sie ist es, die mich regieren gelehrt, mir die Gesetze der Welt, das versiegelte Wesen der Elemente, die Sprache der Sterne, die Kraft des Geistes und die Eigenschaften der Pflanzen erschlossen hat. Aber sie ist nicht greifbar, verflüchtigt sich in die Ferne… Hast du sie in den Steinen des Tempels eingefangen, Meister Hiram? Wie konnte ich nur einen Ägypter die Arbeiter meines Königreiches befehligen lassen? Ist das nicht der Fehler eines schlechten Königs?»
«Ich habe weder dein Volk noch dein Land gekannt, aber ich habe beides lieben gelernt.»
«Und bist dennoch Ägypter geblieben.»
«Was trennt uns denn, Majestät?»
«Das Ereignis, das bei der Weihung des Tempels gefeiert wird: der Auszug der Hebräer aus Ägypten, die Erlösung meines Volkes aus dem Joch deines Volkes.»
«Du weißt genausogut wie ich, daß es sich nicht so abgespielt hat, wie du es jetzt darstellst. Die Hebräer haben in Ägypten Ziegel hergestellt und sind für ihre Arbeit entlohnt worden. Niemand hat sie versklavt, denn Sklaverei hat es in Ägypten nie gegeben. Sie ist gegen das Gesetz des Kosmos, dessen Sohn und Bürge vor seinen Untertanen der Pharao ist. Moses hat bei Hofe eine hohe Stellung gehabt. Wenn er Ägypten verlassen hat, um Israel zu gründen, so hat er das mit Zustimmung des Pharaos getan, dem er gedient hat.»
«Dieses Geheimnis, Meister Hiram, dürfen weder du noch ich preisgeben. Niemand ist bereit, sich das anzuhören. Das Gedächtnis meines Volkes nährt sich von der Erzählung, wie sie in unserem heiligen Buch steht. Sie ist Grundlage unserer Geschichte, und es ist zu spät, daran etwas zu ändern.»
«Ich glaube dir nicht, Majestät. Durch den auf dem Felsen von Jerusalem errichteten Tempel willst du einen neuen Bund zwischen Gott und Israel schließen, der ein neues Bündnis zwischen Ägypten und Israel erfordert. Uneinig haben weder der eine noch der andere Frieden.»
Hiram las in Salomos Seele, Salomo in Hirams. Das gestanden sie sich jedoch nicht ein, denn sie fürchteten, damit das magische Band zu zerreißen, das sie verband.
Salomo wußte, daß sich der Oberbaumeister den Tod seiner Arbeiter nicht verzeihen würde, und Hiram wußte, daß der König ihm immer vorwerfen würde, er hätte ihm seine ägyptische Herkunft verborgen. Doch das Geheimnis, das sie teilten, machte sie im Geist zu Brüdern.
«Der Tempel ist der Sitz Gottes», fuhr Hiram fort. «Und nur der König schenkt ihm Leben. Du bist der einzige Mittler zwischen deinem Volk und Jahwe. Der einzige, Majestät.»
Kapitel 44
Nach Salomos Aufbruch kehrte Hiram auf die Baustelle zurück. Er hatte dem König versprochen, den Tempel nicht zu verlassen, über die wohlbehaltene Aufstellung des ehernen Meeres zu wachen und den Vorhof fertigzustellen. Doch gleichzeitig hatte er gefordert, daß er drei Tage und drei Nächte lang allein in der Wüste bleiben durfte. Er mußte sich einfach von allen Menschen entfernen und in sich zu einer neuen Klarheit finden.
Der Oberbaumeister begegnete Scharen von Klippschliefern, einer Art Murmeltiere, die beim kleinsten Geräusch davonstoben. Er hörte die Hyänen lachen und die Schakale heulen. Er sah Füchse und Wildschweine, ließ sich von einer heißen Sonne durchwärmen, wanderte über ockergelben Sand und schlief im Schutz von Felsen, die von der Hand desjenigen vergessen worden waren, der die Wüste geknetet hatte. Denn wer war diese Gegenwart, wenn nicht der Schöpfer?