Hiram liebte die Sprache der Steine, das von der Sonne verdorrte Nichts, dieses Gegen-Land, das auf Fruchtbarkeit verzichtet hatte, damit es die unsichtbare Vollkommenheit Seines Wesens besser empfangen konnte.
Der Wüste entging nichts. Der Oberbaumeister bot ihr den Tod seiner Arbeitsgefährten dar. Er begrub ihr Andenken in der Heiligkeit des rötlichen Abends, vertraute ihre Seelen dem Geist des Windes an, der sie zu den Enden des Universums in der Nähe der Quelle tragen würde, wo die Finsternis noch nicht geboren war.
Als Hiram wieder in Richtung Jordan ging, sah er ein rotweißes Zelt, das auf einer steinigen Anhöhe stand.
Er begriff sofort. Die Stunde war gekommen. Die Freude, die er hätte empfinden sollen, zerriß ihm das Herz.
Hiram betrat das Zelt. In seinem Inneren saß ein wie ein Beduine gekleideter Nomade in Schreiberhaltung. Nach dem kurzen Spitzbart mochte er Semit sein. Er war an die fünfzig Jahre alt, hatte einen durchdringenden Blick und bot dem Ankömmling einen Becher frisches Wasser mit einem Spritzer Essig an.
«Sei deinem Gastgeber willkommen. Erlaube ihm, dir Unterkunft zu geben, bis das Salz, das du ißt, deinen Magen wieder verlassen hat.»
Hiram nahm das Salz der Erde entgegen, das ihm auf einem Alabasterteller gereicht wurde.
«Wie hast du mich in dieser Wüste gefunden?»
«Ich durchkämme die Gegend seit einem Monat. Man hat deine Ankunft in den Gießereien gemeldet. Von den Hügeln habe ich der Geburt deines Meisterwerks beigewohnt und habe dich nicht mehr aus den Augen gelassen. Von fern habe ich dein Treffen mit Salomo gesehen. Alsdann bin ich dir gefolgt, denn ich habe erwartet, daß du dich zurückziehst. Ehe du wieder in die Welt gehst, muß ich mit dir sprechen.»
«Mehr als sieben Jahre nach meinem Aufbruch aus Ägypten… Schickt dich der Pharao?»
«Aber gewiß doch, Meister Horemheb. Er und ich sind die einzigen, die von diesem Auftrag wissen. Hast du denn kein Zeichen vom ägyptischen König erwartet, nachdem deine Aufgabe erfüllt ist?»
Hiram nahm den Kopf in die Hände wie ein erschöpfter Reisender am Ende einer langen Reise. Von diesem Augenblick hatte er sieben lange Jahre geträumt. Er hatte ihn als Erlösung angesehen, als ein Glück, das wie Honig schmeckte, als Sonne mit wohltuenden Strahlen. Doch die Katastrophe mit dem ehernen Meer und die Unterhaltung mit Salomo unweit des in hohen Binsen versteckten Sees war nicht beiseite zu schieben. Der Baumeister wollte nach Ägypten zurück, doch jetzt durfte er Israel nicht mehr verlassen. Salomo behilflich zu sein, ihm dabei zu helfen, den Thron und den Frieden zu festigen, den Tempel fertigzustellen, der sein Volk heiliger machen würde, das waren Pflichten, denen er sich nicht entziehen würde.
«Bist du zufrieden mit deinem Werk, Meister Horemheb?»
«Welcher Baumeister wäre das schon, es sei denn, er pflanzt mitten in seinen Garten den trockenen Baum der Eitelkeit? Dieser Tempel hätte noch größer und hehrer sein können… Aber ich hatte nur einen Felsen zur Verfügung.»
«Ist es dir gelungen, die Weisheit unserer Vorfahren in seine Mauern einzubauen?»
«Ägypten ist das Herz von Salomos Heiligtum. Wer Karnak lesen kann, wird Jerusalem entziffern. Und wer Jahwes Tempel liest, kennt die Geheimnisse und das Wissen aus dem Haus des Lebens.»
«Du bist dem Pharao ein treuer Diener gewesen. In dieser Eigenschaft verdienst du Ehren und Würden. Doch Ägyptens Glück scheint es anders zu wollen…»
«Was willst du damit sagen?»
«Der Pharao hatte gehofft, daß du zu ihm zurückkehrst. Er wollte dich zum Obersten Baumeister über alle königlichen Bauten ernennen. Aber leider machen uns die Libyer noch immer zu schaffen. Siamun befürchtet einen versuchsweisen Einfall. Wie wird sich Israel verhalten? Wird Salomo zu dem Bündnis stehen? Du allein kannst uns aufgrund deiner Kenntnis des Landes und des Herrschers vor einem möglichen Verrat warnen. Darum bittet dich der Pharao, dein Opfer noch zu verlängern.»
Hiram trank das Essigwasser. Wer konnte es wagen, über einen Befehl des Pharao zu streiten? Siamun ließ ihm keine Wahl. Wann würde er Ägypten wiedersehen? Wurden ihm sieben weitere Verbannungsjahre auferlegt?
Nur der Wüstenwind kannte die Antwort.
Das Ereignis war so einzigartig, daß es für immer in die Geschichte der Menschheit eingehen würde. Zur Feier der Tempelweihe wimmelten die Straßen von Jerusalem von begeisterten Menschen. Die Dörfer wirkten verlassen. Kein Hebräer wollte bei diesem ungewöhnlichsten aller Feste fehlen. Als Salomo die Geburt von Jahwes Heiligtum ankündigte, wurde Israel ein zweites Mal erschaffen und erlangte den Rang eines mächtigen Staates, der seinen Glauben und seine Hoffnung bis hinauf zum Himmel schreien durfte.
Es war schier unmöglich, durch die Gäßchen zu gehen, so dicht drängten sich die Schaulustigen. Überall erblickte man Priester in weißen Roben. Am Fuß des Felsens thronten Israels Stammesfürsten, vor sich eine Schar Diener. Kein Zoll Boden vom Hang, der Davids Stadt vom Tempel trennte, war ohne Menschen. Jeder bewunderte die Umfassungsmauer und die drei Reihen behauener Steine. Wann würden die Tore aufgehen, die Salomos Soldaten bewachten, und Zutritt zum Platz, dem Ziel der Wanderung von Tausenden von Gläubigen, erlauben.
Dieser Tag würde als der glorreichste des Abenteuers Israel in die Geschichte eingehen, ein Tag, an dem der Nomadengott endlich seine Friedenswohnstatt gefunden hatte. Sein Heiligtum würde von nun an der Opferort sein und Erde und Himmel verbinden. Andere Gottheiten und andere Kulte würden durch die machtvolle Gegenwart des Einen Gottes unterdrückt und ausgelöscht werden.
Salomo bekleidete Hiram mit einem Purpurumhang.
«Das hier ist das Zeichen der Würde, das du von dem Tag, an dem dein Werk vollendet ist, mit Stolz tragen sollst.»
«Wird es jemals vollendet sein, Majestät?»
«Die Zeit ist auf der Schwelle des Tempels stehengeblieben, Meister Hiram. Sie überholt seinen Schöpfer.»
Die beiden Männer standen allein im Vorhof. Gen Osten erhob sich eine erlesene Vorhalle mit drei Reihen aus mehr als zweihundert Säulen. Dazwischen konnte man das Kidron-Tal und die grünen, sonnenbeglänzten Hügel sehen.
«Ich will die ganze Vergangenheit vergessen», verkündete Salomo. «Eine Stunde an diesem Ort zählt mehr als tausend Jahre Paradies.»
Dem Baumeister schnürte es das Herz zusammen, als er die Stätte betrachtete, die ihm schon bald nicht mehr gehören würde. Mitten auf dem majestätischen Vorhof stand ein Altar und links davon das eherne Meer, das von zwölf Bronzestieren getragen wurde, drei in jeder Himmelsrichtung. Die riesige Schale erinnerte an den heiligen See von Tanis, in dem sich die Priester im Morgengrauen reinigten, ehe sie etwas Wasser schöpften, mit dem sie dann das den Göttern angebotene Essen weihten. Der Rand des ehernen Meeres war wie Blütenblätter geformt. Sie symbolisierten den aus dem Urmeer wachsenden Lotos, auf dem sich am Urmorgen die Sonne erhoben hatte. Rings um das Meer standen auf Karren zehn Gefäße, ein jedes mit einem Inhalt von vierzig Eimern Wasser. Die Priester konnten die Karren je nach Bedarf während des Gottesdienstes verschieben und daraus das zur Reinigung der Opfertiere unabdingbare Wasser schöpfen.
Salomo höchstpersönlich öffnete das Tor der Umfassungsmauer. Zadok und etliche Priester, die die Bundeslade trugen, schritten langsam hindurch. Die Gesetzestafeln verließen die alte Stadt Davids für immer. Von nun an würden sie im Allerheiligsten von Salomos Tempel aufbewahrt werden.
Der Hohepriester verneigte sich vor dem König, der auf die Bundeslade zutrat und sie ehrfürchtig berührte. Er erinnerte sich an den gesegneten Tag, an dem er an einen nicht machbaren Frieden gedacht und die gleiche Geste ausgeführt hatte. Das göttliche Gesetz hatte seinen innigsten Wunsch erhört. Er schloß die Augen und träumte von einer Welt, in der die Menschen weder Krieg noch Haß kannten, in der sich ihre Blicke unaufhörlich zum Tempel richteten, um sich von dort Weisheit zu holen.