»Ich fürchte, allzulange werden wir keine Gelegenheit dazu haben«, sagte Kara. »Was immer die Libellen in Schelfheim gewollt haben - sie haben es nicht gefunden. Sie werden wiederkommen oder sich etwas anderes einfallen lassen.«
Donay erbleichte. »Du meinst, ein neuer Angriff?«
Kara dachte einen Moment ernsthaft über diese Möglichkeit nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht. Ich habe immerhin zehn Drachen in der Stadt gelassen.«
»Zehn deiner Drachen gegen fünfzig oder hundert von ihnen?« sagte Donay zweifelnd.
Kara zuckte mit den Schultern. »Sie werden es nicht wagen«, sagte sie überzeugt. »Frag mich nicht, warum es so ist, Donay. Ich habe mehrmals selbst gegen sie gekämpft - sie kämpfen, als hätten sie keine Angst vor dem Tod. Aber sobald sie auch nur einen Drachen sehen, ergreifen sie die Flucht.«
»Das ist richtig«, bestätigte Aires. »In jener Nacht im Schlund gaben sie sofort auf, als es Karas Leuten gelang, den ersten zu zerstören. Die beiden, die entkommen sind, hätten Tess und die drei anderen töten können.« Sie sah Kara an und erntete ein ernstes Kopfnicken. »Aber sie haben nicht einmal versucht, sich zum Kampf zu stellen.«
»Aus irgendeinem Grund fürchten sie die Drachen mehr als den Tod«, sagte Kara.
Donay machte plötzlich ein sehr nachdenkliches Gesicht.
»Interessant«, sagte er. »Nur die Drachen?«
»Es scheint so«, bestätigte Kara. »Der Mann, mit dem ich in Schelfheim kämpfte, zog es vor zu sterben, statt sich zu ergeben. Sie haben keine Angst vor dem Tod.«
»Das ist wirklich interessant«, sagte Donay. »Zumal du selbst mir erzählt hast, daß sie gewissermaßen ewig leben.«
»Wieso!«
»Ich kann mich täuschen«, antwortete Donay, »aber ich hätte gedacht, daß ein Unsterblicher noch sehr viel mehr Angst vor dem Tod hat als du oder ich. Wir haben fünfzig oder sechzig Jahre zu verlieren - sie vielleicht fünf- oder sechshundert. Oder auch tausend. Irgendwie erscheint mir das unlogisch.«
»Mir auch«, gestand Kara in einem verblüfften Ton, als frage sie sich, warum, zum Teufel, sie nicht schon längst von sich aus auf diesen Widerspruch gestoßen war.
Kara setzte zu einer Antwort an, aber in diesem Moment klopfte es an der Tür, dann betrat ein Krieger unaufgefordert den Raum. Sein Blick huschte über die Anwesenden und blieb auf Karas Gesicht hängen. »Ka... Herrin?«
»Ja?«
»Ihr solltet... vielleicht auf den Turm hinaufkommen«, sagte der Mann stockend. »Wir beobachten etwas Ungewöhnliches.«
Kara stand auf, und auch Aires und Donay erhoben sich hastig. »Was?«
»Ich bin nicht sicher«, antwortete der Krieger. »Es könnten Silvy und die anderen sein, die zurückkommen.«
»Jetzt schon? Aber es ist viel zu früh.«
»Sie fliegen sehr langsam«, sagte der Krieger. »Und etwas... scheint bei ihnen zu sein.«
Kara ersparte sich die Frage, was er mit diesem ›Etwas‹ gemeint hatte. Eilig trat sie an ihm vorbei und lief die Treppe zur Aussichtsplattform hinauf. Sie entdeckte die näherkommenden Drachen erst, nachdem sie einige Augenblicke lang angestrengt nach ihnen gesucht hat.
Sie waren noch sehr weit entfernt, Meilen über dem Schlund, und sie erkannte sie mehr an der charakteristischen wiegenden Bewegung als an ihrem Aussehen. Sie flogen tatsächlich sehr langsam.
Von irgend etwas, das bei ihnen war, konnte Kara nichts entdecken.
Sie wollte den Mann, der sie herbeigeholt hatte, gerade fragen, was er gemeint hatte, als sie das Blitzen sah.
Es war nur ein flüchtiges Schimmern. Ein verirrter Sonnenstrahl, der sich auf Metall oder Glas brach und sofort wieder erlosch. Aber Kara fuhr zusammen, als hätte sie glühendes Eisen berührt. Hinter ihr sog Aires die Luft ein.
Das Aufblitzen wiederholte sich, nicht in regelmäßigen Abständen, aber oft genug, um ihnen zu zeigen, daß es nichts anderes sein konnte als... irgend etwas, das zwischen den Drachen flog. Etwas aus Metall oder Glas.
»Denkst du dasselbe wie ich?« fragte Aires im Flüsterton.
»Ja«, murmelte Kara ebenso leise. »Aber es...« Sie brach ab und wandte sich an den Mann, der sie heraufgebracht hatte. »Jemand soll Markor satteln. Und ein Dutzend weiterer Drachen!«
Aires sagte: »Das ist keine gute Idee. Es wäre besser, wenn du nicht fliegst.«
»Wieso?« fragte Kara aufgebracht. »Das da draußen...«
»Ist vielleicht eine Falle«, fiel ihr Aires leise und ernst ins Wort. »Was tust du, wenn noch fünfzig von ihnen auftauchen, sobald ihr über dem Schlund seid?«
»Ich habe keine Angst«
»Das ist ja gerade das Schlimme«, sagte Aires. »Du bist keine x-beliebige Kriegerin mehr, Kara. Du bist die Herrscherin über den Drachenhort. Fang endlich an, dich so zu benehmen.«
Widerstrebend gestand sich Kara ein, daß sie recht hatte. Sie durfte sich nicht unnötig in Gefahr begeben, weil sie die einzige war, die Elders Vertrauen genoß. »Kann es vielleicht sein, daß mir meine Beraterin plötzlich doch zur Verfügung steht?« fragte sie.
Aires blieb ernst. »Das habe ich immer«, sagte sie. »Wir klären diese andere Sache, sobald das hier vorbei ist.«
»Dürfte man erfahren, worüber ihr beide überhaupt redet?« mischte sich Donay ein.
»Eine reine Frauensache«, antwortete Kara ausweichend. »Es würde dich nicht interessieren.« Sie wandte sich wieder um und blickte nach Norden. Die Drachen waren näher gekommen, allerdings nicht sehr viel. Trotzdem glaubte sie jetzt einen vierten, verschwommenen Umriß zwischen ihnen zu erkennen. Es erschien ihr selbst unglaublich - aber es war eine Libelle!
»Vielleicht ein Parlamentär«, murmelte Aires.
Kara lachte. »Warum sollten sie wohl mit uns reden?«
»Um uns dasselbe zu sagen wie Elder - oder das Gegenteil. Vielleicht sind sie nicht so stark, wie er uns glauben machen wollte?«
Vielleicht, vielleicht, vielleicht... Kara antwortete nicht.
Aires riet einfach herum, sie war genauso verwirrt und fassungslos wie sie alle.
Da sie seit dem Angriff auf Schelfheim immer eine Staffel von Drachen und Reitern in Alarmbereitschaft hatten, vergingen nicht einmal fünf Minuten, bis sich ein Dutzend der riesigen Drachenvögel in die Luft schwangen und nach Norden glitten.
Die Schnelligkeit, mit der sie sich den vier anderen Drachen und der Libelle näherten, bewies Kara, wie langsam die anderen flogen. Als sie nahe genug waren, daß Kara die Libelle deutlich erkennen konnte, beobachtete Kara, wie die Maschine torkelte oder manchmal zur Seite kippte. Die Maschine war beschädigt, sie zog einen Schweif aus grauem Rauch hinter sich her. Ein häßlicher Brandfleck verunzierte die durchsichtige Pilotenkanzel, hinter der verschwommene Umrisse zweier Passagiere erkennbar waren.
Kara eilte in den Hof hinunter, als die Libelle und der Drachenschwarm die Klippe erreichten. Für einen Moment konnte sie das bizarre Gefährt nicht mehr sehen, aber sie hörte sein schrilles, unheimliches Heulen, und auch dieses Geräusch klang anders, als Kara es in Erinnerung hatte: schrill und eigentümlich blechern.
Dann tauchte die Libelle über den Zinnen der Burg auf. Sie war nur noch ein Wrack, bei dessen Anblick sich Kara verblüfft fragte, wieso es überhaupt noch flog. Der schlanke, gerippte Rumpf war ausgeglüht, als wäre er von einem Dutzend Laserstrahlen getroffen worden und der Kopf hatte sich in ein wahres Spinnennetz von Sprüngen und Rissen verwandelt, mit einem immer schriller werdenden Heulen näherte sich die Maschine dem Boden.
Kara sah die Katastrophe kommen, aber sie konnte nichts tun.
Bei den Libellen, die sie in Schelfheim gesehen hatte, waren ihr drei wuchtige Räder aufgefallen, die an einem Gestänge unter Rumpf und Heck angebracht waren und offensichtlich vor der Landung ausgefahren werden konnten. Der Pilot dieses Helikopters machte nicht einmal den Versuch, das Fahrwerk auszuklappen. Außerdem kam er viel zu schnell herunter. Die Maschine schlug mit fürchterlicher Wucht auf dem Boden auf und kippte halb auf die Seite. Die wirbelnden Rotorblätter hämmerten in den Fels und zerbrachen, die Splitter jagten wie tödliche Messer durch die Luft. Die pure Wucht dieser Bewegung warf die Libelle auf die andere Seite, und die gläserne Pilotenkanzel zerbarst endgültig. Das schrille Heulen des Motors erstarb, und der Rauch, der aus dem Heck der Maschine gequollen war, wurde schwarz. Flammen züngelten aus dem zerborstenen Heck der Maschine.