»Sie sagten, sie erwarteten die Ankunft ihrer Freunde«, antwortete Tess. »Sie hatten wohl Angst, daß sie den Thron angreifen und wir alle dabei umkommen.«
»Bist du sicher?« vergewisserte sich Elder erregt. »Sie fürchteten einen Angriff auf die Drohne?«
»Sagtest du nicht, du hättest keine Gelegenheit mehr gehabt, einen Hilferuf zu senden?« fragte Aires mißtrauisch.
»Das habe ich auch nicht«, sagte Elder ärgerlich. »Wieso...«
Er sah einen Moment nachdenklich auf Tess herab. »Was genau haben sie gesagt? Denk nach, Kind.«
»Ich habe kaum etwas verstanden«, sagte Tess hilflos. »Sie haben meistens in einer fremden Sprache miteinander geredet.«
»Denk nach!« drängte Elder. Plötzlich kam ihm sichtbar eine Idee. »Hast du das Wort Di-Es-Ar-Vi verstanden?«
Tess nickte, sichtlich verblüfft. »Ja. Woher weißt du das?«
Elder atmete auf. Von einer Sekunde auf die nächste sah er nicht nur erleichtert, sondern sehr zufrieden aus. »Jetzt haben wir sie!« sagte er. »Ich habe es nicht zu hoffen gewagt, aber offensichtlich hat das Schiff im letzten Moment doch noch eine Sonde gestartet. Wir haben sie! In einer Woche ist der Spuk vorbei! DSRV bedeutet Deep Space Rescue Vessel«, erklärte er.
»Ein Rettungsboot, das das Schiff vollautomatisch ausschleust, wenn der Bordcomputer zu dem Schluß kommt, daß die Zerstörung des Schiffes nicht mehr zu verhindern ist.«
»Einer deiner Leute ist entkommen?«
»Nicht unbedingt«, antwortete Elder. »Das DSRV fliegt auch unbemannt. In diesem Fall steuert der Computer automatisch das Ziel an, das man ihm vorher einprogrammiert hat.« Plötzlich grinste er.
»Und in diesem Fall war dieses Ziel die Hauptniederlassung der Company, für die ich arbeite. Das Mädchen hat recht - in spätestens zehn Tagen sind meine Leute hier. Sie werden mit dieser Saubande aufräumen, das verspreche ich euch!«
Er sah abwechselnd Kara und Aires an, und in das strahlende Lächeln auf seinen Zügen mischte sich Verwirrung, als er bemerkte, daß sie beide noch genauso besorgt aussahen wie bisher. »Was ist los mit euch?« fragte er. »Versteht ihr denn nicht? Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Niemand wird euch jetzt noch etwas tun! Eure Welt wird weiter euch gehören!«
»Wie schön«, sagte Aires ruhig.
»Ich verstehe«, murmelte Elder. »Ihr traut mir immer noch nicht. Ihr habt Angst, den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben.«
»Ich weiß zwar nicht genau, was diese Worte bedeuten«, sagte Aires, »aber ich schlage vor, daß wir die Diskussion darüber auf später vertagen.« Sie deutete wieder auf Tess. »Weiter.«
»Wir flohen heute morgen«, sagte Tess. »Aber sie müssen verraten worden sein, oder sie hatten einfach Pech. Als wir in den Raum kamen, in dem die Libellen standen, wurden wir angegriffen. Einer der Männer starb, der andere und ich konnten eine Libelle stehlen und entkamen.«
»Und sie haben euch nicht verfolgt?« fragte Elder zweifelnd.
»Doch. Aber wir hatten einen guten Vorsprung. Nur zwei holten uns ein. Wir kämpften und siegten. Eine Libelle stürzte in den Dschungel, die andere zog sich zurück. Aber auch unsere Libelle war beschädigt, und am Schluß haben sie ihn schwer verletzt.« Sie starrte einen Moment, von der Erinnerung an die schrecklichen Bilder geplagt, ins Leere.
»Sie haben eine Art unsichtbaren Schutzschild«, fuhr sie fort. »Deshalb konnten wir sie über der Stadt im Schlund kaum vernichten. Er ist nicht unüberwindlich, aber für eine Weile hat er sogar dem grünen Licht getrotzt.«
»Trotzdem haben sie den Piloten erwischt«, sagte Aires.
»Ja. Es war...« Tess suchte nach Worten. »Etwas wie ein Pfeil. Aber er flog ganz langsam. Irgendwie... hat er sich durch den Schild gebohrt. Der Pfeil steuerte direkt auf den Libellenreiter zu, als wüßte er, auf wen er gezielt war. Er hatte große Angst. Er... er hat versucht, ihn mit der Hand zur Seite zu schlagen, aber der Pfeil hat seine Hand einfach durchbohrt und dann seine Brust getroffen.«
»Ein Sucher«, sagte Elder düster. »Sie werden auf einen bestimmten Menschen programmiert und folgen ihm bis in die Hölle, wenn es sein muß. Es gibt keine Rettung vor ihnen.«
»Und wieso konnte er den Schild durchdringen, der sogar dem Feuer eines Drachen widersteht?«
Elder zuckte mit den Achseln, ein wenig zu schnell für Karas Geschmack. »Wie soll ich das wissen? Ich bin kein Waffentechniker.«
»Soll das heißen, sie könnten ein paar Hundert von diesen Dingern einfach auf uns abschießen, und wir könnten nichts dagegen tun?« fragte Donay erschrocken.
»Keine Sorge.« Elder machte eine beruhigende Geste. »Die Sucher müssen genau auf ihr Ziel geeicht werden. Bei den beiden Gefangenen hatten sie Zeit und Gelegenheit dazu. Das ist unsere Version von Bluthunden.« Er blickte vorwurfsvoll auf sein bandagiertes Bein herab. »Sie tut nicht ganz so weh.«
»Was ist mit ihm?« fragte Tess. »Lebt er?«
Es dauerte einen Moment, bis Kara begriff, daß sie von dem Piloten sprach, der sie hergebracht hatte. Sie schüttelte den Kopf.
»Das tut mir leid«, sagte Tess ehrlich. »Er hat sich geopfert, um mich zu retten.«
»So?« fragte Aires mit hochgezogenen Brauen. »Für mich hört es sich eher an, als hätte er dein Leben aufs Spiel gesetzt, um seine Haut zu retten.«
»Glaubst du, daß du den Ort wiederfindest, an dem dieser... Thron liegt?« fragte Kara.
Tess schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein. Er liegt unter Wasser, irgendwo im Meer. Man sieht ihn nicht.«
»Es würde euch auch nicht viel nutzen«, sagte Elder. »Die Drohnen sind schwer bewaffnet. Sie würden eure Drachen vom Himmel pusten, ehe ihr auf zehn Meilen heran seid.«
Die Wahl seiner Worte gefiel Kara nicht. Und noch viel weniger gefiel ihr der hörbare Stolz, der darin mitschwang.
»Haltet euch da raus«, fuhr Elder fort. »Es ist nicht nötig, daß ihr euer Leben aufs Spiel setzt. Überlaßt das Leuten, die etwas davon verstehen. Das DSRV ist wahrscheinlich jetzt schon angekommen.«
»Wenn sie es nicht abgeschossen haben«, sagte Donay.
Elder lachte. »Das ist völlig unmöglich. Die Dinger bestehen praktisch nur aus einem großen Triebwerk mit einem bißchen Blech drumherum. Sie fliegen selbst einer Nova davon. Nichts im Universum kann sie aufhalten.«
Donay schwieg. Aber Kara las in seinen Augen, daß er jedes einzelne Wort, das er von Elder gehört hatte, mit größter Aufmerksamkeit registrierte. Ob Elder wußte, daß Donay nie etwas vergaß? Tess wurde zunehmend matter, und Kara stand auf. »Ich denke, das reicht für heute«, sagte sie. »Aires - gib ihr etwas gegen das Fieber. Sie soll schlafen. Im Moment haben wir genug erfahren.«
»Jemand sollte bei ihr Wache halten«, bemerkte Aires.
Kara lächelte. »Ich denke, ich weiß schon jemanden für diese Aufgabe«, sagte sie. »Elder, Donay - ich erwarte euch in meinem alten Zimmer drüben bei den Schülern. Ich werde inzwischen gehen und den Alarm aufheben. Es nutzt niemandem, wenn wir die Leute sinnlos am Schlafen hindern.«
Sie ging, um ihren Entschluß in die Tat umzusetzen. Eine knappe halbe Stunde später kehrten die ruhelos kreisenden Drachen in ihre Höhlen unter der Festung zurück, und die meisten Krieger gingen wieder in ihre Quartiere.
Und zehn Minuten, bevor die Sonne am nächsten Morgen aufging, griff ein Schwarm von annähernd fünfzig Libellen den Drachenhort an.
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Später, als Kara den Teil des Überfalls rekonstruierte, den sie schlicht und einfach verschlafen hatte, gestand sie sich ein, daß sie alle sowohl die Intelligenz als auch die technischen Möglichkeiten ihrer Gegner unterschätzt hatten. Die Libellenreiter mußten unterhalb der Wolkendecke des Schlundes angeflogen sein, und sie mußten auch die Möglichkeit haben, das schrille Heulen ihrer Maschinen zu einem Wispern zu dämpfen, das im Geräusch des Windes unterging, denn der einzige überlebende Posten, der auf der Klippe Wache gehalten hatte, schwor später Stein und Bein, daß sie lautlos wie Gespenster aus den Wolken hochgeschossen waren und so schnell, daß den Männern nicht einmal Zeit geblieben war, einen Warnruf auszustoßen, ehe sie von einem Gewitter grüner Lichtblitze niedergestreckt wurden.