»Aires!«
Die alte Magierin öffnete die Augen, und Kara atmete unendlich erleichtert auf. Aires lebte. Die Angreifer hatten sie wie Tess nur niedergeschlagen.
»Was ist passiert?« fragte Aires. Sie schien kaum bei Bewußtsein zu sein und nahm anscheinend gar nicht richtig wahr, was um sie herum geschah. Sie versuchte sich aufzusetzen, aber es gelang ihr nur mit Karas Hilfe.
»Lebe ich noch?« murmelte sie. Kara tupfte ihr behutsam mit einem Zipfel ihres Umhanges das Blut aus dem Gesicht. Aires hatte eine üble Platzwunde über dem linken Auge. Sie fuhr zusammen, als Kara sie berührte. »Doch«, sagte sie gepreßt. »Ich muß wohl noch leben, so weh wie das tut.«
»Du lebst noch«, sagte Kara. »Allerdings frage ich mich wieso.«
»Wie nett«, murmelte Aires.
»So meine ich das nicht«, sagte Kara. »Ich wundere mich nur - sie haben mindestens ein Dutzend Männer verloren, um hier heraufzukommen. Wenn sie es nicht getan haben, um dich zu töten... weshalb dann?« Sie sah sich in dem vollkommen verwüsteten Zimmer um. »Vielleicht haben sie etwas gesucht?«
Hrhon kam schweratmend hereingewankt. »Sssie sssihehn sssisssh ssshurhück«, stieß er hervor.
Kara war mit einem einzigen Satz am Fenster.
Der Burghof bot ein apokalyptisches Bild. Nicht ein einziges Gebäude war unbeschädigt geblieben. Der Himmel über der Festung glühte rot im Widerschein der Flammen. Eine Handvoll Libellen kreiste noch immer über dem Hort, aber die meisten waren mittlerweile gelandet. Dutzende von Männern in blauen Uniformen rannten auf die offenstehenden Glaskanzeln zu.
Viele von ihnen trugen andere, reglose Körper mit sich.
»Hrhon!« sagte sie. »Lauf hinunter. Sie sollen sie auf keinen Fall verfolgen, hörst du? Ich will keinen einzigen Drachen in der Luft sehen. Und jemand soll nachsehen, ob Elders toter Kamerad noch da ist.« Sie begegnete Aires fragendem Blick und deutete auf den Hof hinunter. »Sie nehmen all ihre Toten mit.«
»Aber warum?« wunderte sich Aires. Ächzend stemmte sie sich an der Kante des umgestürzten Tisches in die Höhe und trat zu ihr ans Fenster.
»Vielleicht, weil sie nicht tot sind«, murmelte Kara.
»Wie bitte?«
Kara sah weiter auf den Hof hinab. Der Kampf war vorbei.
Dann und wann zuckte noch ein grüner Blitz auf, wenn einer der PACK-Soldaten nervös wurde und auf einen Schatten feuerte, aber die meisten hatten ihre Maschinen wieder erreicht. Die ersten Libellen starteten bereits wieder.
»Ich weiß, daß es verrückt klingt«, sagte Kara. »Aber... erinnerst du dich, daß ich dir von dem Mann erzählt habe, der Angella und mir in dieser Gasse in Schelfheim aufgelauert hat!«
»Der, den du nachher unten am Strand erschossen hast!«
»Das dachte ich bis jetzt«, antwortete Kara. »Aber vor zehn Minuten habe ich ihn wiedergesehen, Aires. Es war der Offizier, der die Soldaten angeführt hat. Du müßtest ihn eigentlich auch gesehen haben - er trug einen dünnen Bart.«
Aires nickte. »Das war der Kerl, der mich niedergeschlagen hat.« Sie blinzelte. »Aber du mußt dich täuschen. Du kannst ihn nicht getötet haben!«
»Doch, Aires.« Kara drehte sich langsam zu der alten Magierin um und sah ihr ins Gesicht, während im Hof unter ihr die letzten Libellen kreischend abhoben. »Verstehst du immer noch nicht, Aires! Wir kämpfen gegen eine Armee von Unsterblichen!«
42
Selbst Stunden später war es ihnen nicht einmal gelungen, sämtliche Brände zu löschen. Kara hatte alle, die sich nicht um die Verletzten kümmern mußten oder selbst verletzt waren, zum Löschen des Feuers eingesetzt, aber es war ein fast aussichtsloses Unterfangen. Was nicht den grünen Blitzen der Libellen zum Opfer gefallen war, würde bis zum Abend ein Raub der Flammen werden. Der Drachenhort hatte Jahrtausende überdauert, hatte Kriege, Belagerungen und Naturkatastrophen überstanden und ganze Völker aus dem Nichts auftauchen und wieder dorthin verschwinden sehen, doch jetzt war er verloren.
Bis zur Mittagsstunde hatten sie einunddreißig Tote gezählt, und sie gruben immer noch Leichen aus den Trümmern. Kara schätzte, daß es bis zum Abend fünfzig sein würden; wenn sie Glück hatten. Und kaum einer der Lebenden war ohne mehr oder weniger schwere Blessuren davongekommen.
Da sie zu Recht argwöhnte, daß Aires so lange Verwundete versorgen würde, bis sie zusammenbrach, geleitete sie die Magierin selbst in ihre Turmkammer, die in einem der wenigen Teile des Gebäudes lag, das nicht völlig zerstört worden war.
Kara war im ersten Moment überrascht, als sie die Kammer betrat und Tess auf einem Stuhl am Tisch vorfand, in eine Decke gewickelt und zitternd. Dann fiel ihr ein, daß sie selbst befohlen hatte, die junge Kriegerin hinaufzubringen. Trotzdem klang in ihrer Stimme keine Spur von Mitgefühl. »Also?« fragte sie kalt. »Ich höre.«
Tess sah sie aus fiebrigen Augen an. »Ich... verstehe nicht...«
»Nein?« schnappte Kara. »Dann geht es dir wie mir. Ich verstehe auch so einiges nicht. Zum Beispiel, woher sie so genau wissen konnten, wie sie uns am härtesten treffen können.« Sie trat beinahe drohend auf Tess zu. »Sie wußten alles über uns und die Festung, Tess! Wie unsere Verteidigung aussieht, wo unsere Wachen stehen und in welchen Gebäuden die Krieger schlafen! Selbst wie sie die Drachen ausschalten können!«
»Ich habe nichts gesagt, wenn du das meinst!« verteidigte sich Tess. »Sie haben mich nicht einmal verhört!«
»Sie...«
»Natürlich haben sie das«, sagte eine Stimme hinter Kara, und sie brach mitten im Satz ab und drehte sich zornig zu Elder herum, der auf einem unbequemen Hocker hinter der Tür saß.
Storm, der einen Verband um den linken Arm und einen zweiten über der Stirn trug, stand mit grimmigem Gesichtsausdruck neben ihm und stieß ihn grob auf den Stuhl zurück, als er sich erheben wollte. »Sie haben sie verhört«, sagte Elder noch einmal.
»Sie haben jedes bißchen Wissen aus ihrem Gehirn gesaugt, nur erinnert sie sich nicht mehr daran. Es ist nicht ihre Schuld.«
Kara funkelte ihn an. »Elder - wie schön, daß du uns auch wieder einmal die Ehre gibst. Wo bist du gewesen?«
Elder ignorierte die Frage und machte eine Kopfbewegung auf Tess. »Das arme Kind sitzt seit Stunden hier und hat hohes Fieber«, sagte er. »Aber sie kann nichts dafür. Glaub mir - auch du hättest ihnen jede Frage beantwortet, die sie dir gestellt hätten.«
»Ich habe ihn in den Drachenhöhlen gefunden«, sagte Storm zornig. »Wo er in Sicherheit war, dieser verdammte Feigling!«
»Feigling?« Elder lachte kurz. »Hältst du es für tapfer, hier oben zu bleiben und als Zielscheibe zu dienen?«
»Wenigstens sind wir nicht weggelaufen und haben unsere Kameraden im Stich gelassen!« entgegnete Kara.
»Ich habe euch oft genug gewarnt!« sagte Elder. »Ihr wolltet mir nicht glauben, wie? Habt ihr gedacht, ich lüge, oder habt ihr euch wirklich für so unbesiegbar gehalten? Weißt du eigentlich, daß ihr noch Glück gehabt habt? Ihr könntet jetzt alle tot sein, wenn sie es ernst gemeint hätten!«
»Wir sind verraten worden!« sagte Storm mit einem fast haßerfüllten Blick auf Tess. »Hätten wir unsere Drachen in die Luft be...«
»Hätten! Wenn! Wäre!« unterbrach ihn Elder. »So ist noch nie ein Krieg gewonnen worden, Storm. Der Trick ist, daß ihr nicht dazu gekommen seid!«
»Noch einmal wird uns das bestimmt nicht passieren«, grollte Storm. »Sicher nicht!« antwortete Elder. »Das nächste Mal denken sie sich etwas anderes aus, um euch zu überraschen. PACK hat noch nie einen Krieg verloren.«
»Sie kämpfen nicht fair!« sagte Storm.
»Na und?« Elder deutete auf Kara. »Um einmal einen der Lieblingssätze eurer Herrin zu zitieren: Wer hat je behauptet, daß ein Kampf immer fair sein muß?«
»Das reicht!« sagte Kara, aber Elder unterbrach sie sofort wieder.