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Gendik erbleichte, weil er solch eine harte, schneidende Replik noch nicht erlebt hatte. Im gleichen beleidigenden Ton fuhr sie fort: »Ich muß gestehen, daß ich ein wenig überrascht bin, Euch hier zu sehen, Gendik. Ich dachte, ich hätte Euch und Eure Berater zu einem Gespräch in den Drachenhort eingeladen.«

»Ich kann hier nicht weg«, antwortete Gendik verstört. »Wie stellst du dir das vor? Die Stadt ist von einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes getroffen worden. Soll ich sie im Stich lassen, nur um einen Becher Wein mit dir und deinen Freunden zu trinken?«

Wie recht du hast, dachte Kara. Und die wirkliche Katastrophe kommt erst noch, mein Freund.

Karoll versuchte zu schlichten. »Ich bitte euch«, sagte er in die Runde. »Wir sind alle erregt und nervös. Gegenseitige Vorwürfe helfen da niemandem weiter. Gendik konnte nicht einfach für eine Woche verschwinden, nach allem, was hier geschehen ist, Kara. Und du hattest sicher gute Gründe, erst jetzt hier zu erscheinen und mit weniger Kriegern, als wir erwarteten.«

»Ja«, sagte Kara düster. »Die hatte ich.«

Gendik warf seinem Berater einen zornigen Blick zu, ging aber nicht weiter auf seine Worte ein, sondern setzte im gleichen, herausfordernden Tonfall wieder an: »Wann kommen die anderen Krieger? Und was gedenkt ihr zu tun, um einen dritten Überfall zu verhindern?«

»Überhaupt nichts«, antwortete Kara ruhig.

Karoll starrte sie aus aufgerissenen Augen an.

»Wir werden nichts tun, weil wir nichts tun können, Gendik. Du hast gesehen, wozu sie fähig sind. Was erwartest du von mir? Daß ich meine Leute gegen einen übermächtigen Feind in die Schlacht schicke? Ich habe dir zehn meiner besten Krieger hiergelassen, und sie haben sie abgeschossen wie lahme Tauben. Ich denke nicht daran, meine Freunde zu opfern.«

»Das heißt, du läßt uns im Stich?« murmelte Gendik fassungslos. »Du wirfst uns ihnen zum Fraß vor?«

»Zehn Jahre, Gendik«, begann Kara. »Zehn Jahre lang habt ihr alle keine Gelegenheit ausgelassen, uns zu zeigen, wie sehr ihr uns verachtet. Ihr habt unseren Schutz angenommen, aber unsere Nähe wolltet ihr nicht. Und ihr wollt sie noch immer nicht. Ihr verachtet uns, und ihr gebt euch nicht einmal die Mühe, es zu verheimlichen. Ihr haltet uns für Barbaren, für Wilde, die in ihrer Burg weit weg in den Bergen gut genug aufgehoben sind! Aber jetzt, wo eure kostbaren Leben in Gefahr sind, da schreit ihr plötzlich nach uns. Mit einem Mal sind die Barbaren wieder gut, nicht wahr?«

Sowohl Gendik als auch Karoll sahen sie völlig verständnislos an. Selbst Kara war ein wenig überrascht über die Heftigkeit ihres Ausbruchs, aber sie fühlte sich sehr erleichtert. Sie hatte es einfach einmal sagen müssen.

»Wir haben einen Vertrag, Kara«, sagte Karoll beinahe sanft. »Schelfheim zahlt Abgaben an euch. Nicht viel und auch nicht immer so pünktlich, aber wir erfüllen unseren Teil. Und der Hort...«

»Der Hort«, unterbrach ihn Kara leise, »existiert nicht mehr.«

Die beiden Männer starrten sie an, und auch in Donays Augen erschien ein besorgter Ausdruck. Sie waren eigentlich übereingekommen, nichts von ihrer Niederlage zu erzählen oder sie zumindest herunterzuspielen. Aber Kara hatte plötzlich das Gefühl, daß die Zeit für Lügen endgültig vorüber war.

»Wie... bitte!« hauchte Gendik schließlich.

»Sie haben uns ebenfalls angegriffen«, antwortete Kara leise, ohne ihn oder Karoll anzusehen. »Der Drachenhort ist zerstört. Sie haben ihn niedergebrannt, Gendik. Ich weiß nicht, ob wir ihn überhaupt jemals wieder aufbauen können. Sehr viele unserer Krieger sind tot. Die, die ich mitgebracht habe, sind beinahe alle, die überhaupt noch in der Lage waren, einen Drachen zu besteigen. Und ich werde sie ganz gewiß nicht als Zielscheibe für diese Ungeheuer hierlassen.«

»Ihr... gebt einfach auf?« sagte Gendik verstört. »Ihr wollt nicht einmal gegen sie kämpfen? Ihr wollt uns einfach im Stich lassen?«

Hatte er denn gar nichts verstanden? Kara blickte ihn an und versuchte vergeblich, weiterhin so etwas wie Zorn oder wenigstens Verachtung zu empfinden. Es gelang ihr nicht. Ihr Vorrat an Gefühlen war erschöpft. Sie fühlte sich nur noch leer.

Und es war auch Donay, der Gendik antwortete, nicht Kara.

»Natürlich nicht«, sagte er mit einem fast flehenden Blick in Karas Richtung. »Aber wir haben es mit einem Gegner zu tun, der mit den uns bekannten Mitteln und Waffen nicht zu schlagen ist. Wir müssen eine neue Taktik ausarbeiten. In diesem Zusammenhang...« Er griff unter seine Jacke und zog den zusammengefalteten Zettel hervor, den er von Elder bekommen hatte. »Da wären noch ein paar Dinge, die ich euch zusammenzustellen bitte.«

»Eine neue Taktik?« ächzte Gendik. »Worin besteht sie? Darin, sich feige zu verkriechen und darauf zu warten, daß sie die Lust verlieren, uns zusammenzuschießen?«

»Sie besteht auf jeden Fall nicht darin, mit offenen Augen in den sicheren Tod zu rennen«, antwortete Kara müde. »Überdies habe ich sicheren Grund zu der Annahme, daß sie euch nicht noch einmal angreifen werden.«

»Wie beruhigend«, sagte Gendik. »Und wenn du dich täuschst, dann sind wir die ersten, die das merken, wie?«

Sein Hohn prallte von Kara ab. Er war ebensowenig echt wie sein überheblicher Blick. Der Gendik, der Kara gegenübersaß, hatte kaum noch etwas mit dem Mann gemein, der vor wenigen Minuten durch die Tür hereingekommen war. Gendik war bis ins Mark erschüttert. Schelfheim hatte sich all die Jahre hindurch sicher gefühlt, beschützt von der stärksten Macht, die es auf dieser Welt gab. Und mit einem Mal mußten sie erkennen, wie wenig dieser Schutz wert war.

»Es ist keineswegs so, daß wir aufgeben«, fuhr Kara fort. »Aber Donay hat völlig recht. Die Libellen sind keine Gegner, die wir mit Waffengewalt in die Knie zwingen können. Wir müssen uns einen anderen Weg ausdenken. Das bedeutet nicht, daß wir kapitulieren.«

»Dann... dann verbünden wir uns mit ihnen«, sagte Gendik nervös. »Wir müssen herausfinden, was sie von uns wollen und warum sie hier sind. Vielleicht gibt es einen Weg, sich mit ihnen zu arrangieren.«

Kara lächelte bitter. Sie hatte diesen Vorschlag von einem Mann wie Gendik erwartet. »Ich fürchte, das einzige, was sie von uns wollen, ist auch das einzige, was wir ihnen nicht geben können«, sagte sie.

Karoll hatte mittlerweile den Zettel gelesen und sah stirnrunzelnd auf. »Das kann ich euch nicht geben«, sagte er. »Diese Dinge werden in Schelfheim benötigt. Ganz davon abgesehen, daß ich einen Monat bräuchte, um sie zusammenzustellen.«

Kara maß ihn mit einem langen Blick. »Ich kann mich nicht erinnern, daß Donay Euch um diese Dinge gebeten hat, Karoll«, sagte sie kühl. »Es war ein Befehl, und Ihr werdet ihm gehorchen. Und Ihr habt Zeit bis morgen früh, das Gewünschte zusammenzustellen.« Sie stand auf. »Es sei denn, Ihr legt Wert darauf, daß ich meine Krieger ausschicke, um sie zu suchen.«

So schnell, daß Gendik keine Chance mehr hatte, eine Antwort zu finden, verließ sie das Zimmer und das Haus. Ein warmer Wind schlug ihr entgegen. Ohne im Schritt innezuhalten, eilte sie auf den gewaltigen Krater zu, bückte sich unter der dreifachen Absperrung hindurch und blieb erst stehen, als jeder weitere Schritt nicht nur Lebensgefahr, sondern Selbstmord bedeutet hätte. Das Loch war merklich größer geworden. Als sie das erste Mal zusammen mit Elder und Hrhon hier hinabgestiegen war, da hatte es gerade den Durchmesser des Brückenpfeilers gehabt. Jetzt hatte es mehr als die Hälfte des Platzes verschlungen; und das leise, aber beständige Rieseln und Rascheln verriet ihr, daß es sich noch immer ausdehnte. Vielleicht, dachte sie, wird es überhaupt nie aufhören zu wachsen, sondern Schelfheim eines Tages wie ein steinerner Strudel verschlingen.