»Warum warst du so grob zu ihnen?« fragte Donay hinter ihr.
Sie hatte nicht gemerkt, daß er ihr gefolgt war, und sie drehte sich auch nicht zu ihm herum.
»Wieso? Hattest du solches Mitleid mit Gendik?«
»Nein«, antwortete Donay. »Er hat es verdient, aber der Zeitpunkt war nicht sehr klug gewählt.« Mit veränderter Stimme fügte er hinzu: »Geh da weg. Es macht mich nervös, dich da stehen zu sehen.«
Wie um seine Worte zu bekräftigen, löste sich ein kleiner runder Stein unmittelbar neben Karas rechtem Fuß, rollte ein Stück und fiel dann ins Loch. Kara verfolgte seinen Flug, bis er von der Schwärze des Schachtes aufgesogen wurde. Sie rührte sich nicht. »Wieso? Wir wollen doch sowieso nach unten, oder?«
»Aber nicht so«, antwortete Donay. »Jedenfalls hatte ich das nicht vor. Du, vielleicht?« Das Schweigen, mit dem sie auf seine nur rhetorisch gemeinte Frage antwortete, schien ihn zu alarmieren, denn plötzlich vergaß er seine eigene Warnung, trat neben sie und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie wankte, machte einen hastigen Schritt vom Rand des Kraters fort und hielt sich instinktiv an Donay fest. Unter ihrer beider Füßen lösten sich immer mehr Steine und rollten abwärts, und ganz plötzlich spürte sie den Sog der Tiefe. Die Gefahr abzustürzen bestand nicht wirklich, aber sie hatten es doch plötzlich sehr eilig, einige Schritte zwischen sich und den Abgrund zu bringen.
Was für ein absurdes Ende wäre das doch für diese Geschichte gewesen, dachte Kara.
Donay ließ fast verlegen ihre Schultern los, trat einen Schritt vor und wußte plötzlich nicht mehr, was er mit seinen Händen anfangen sollte.
»Laß uns gehen«, sagte Kara, als sie seine Verlegenheit spürte. »Cord wartet sicher schon auf uns.«
44
Vier Stunden später war Kara nicht mehr ganz sicher, ob es nicht wirklich einfacher gewesen wäre, den direkten Weg in die Tiefe zu wählen. Sie hatten nicht sofort aufbrechen können, obwohl alles in Kara danach drängte, ihren Ausflug in Schelfheims Unterwelt möglichst rasch hinter sich zu bringen, damit sie zum Drachenhort und den anderen zurückkehren konnten.
Aber zugleich hatte sie auch Angst vor dem gehabt, was sie finden mochten. Denn ob es nun ein Beweis für Elders Schuld oder im Gegenteil für seine Ehrlichkeit war, es würde die Dinge so oder so komplizieren.
Stand Elder auf ihrer Seite, wie er behauptete, und sprach die Wahrheit, dann kämpften sie einen Kampf ohne jede Aussicht auf einen Sieg. Log er und war ein Verräter, der in Wirklichkeit mit den Männern in den blauen Uniformen zusammenarbeitete, dann standen ihre Chancen noch viel schlechter, denn dann wußten ihre Feinde mittlerweile alles über den Drachenhort und seine Bewohner.
Sie war auf dem besten Weg gewesen, tatsächlich trübsinnig zu werden, als Donay und Cord schließlich kamen und ihr mitteilten, daß sie bereit seien. Cord hatte allerdings den Spürhund nicht bei sich, womit sie fest gerechnet hatte, und irgendein Teufel hatte Donay geritten, seinen brabbelnden Erinnerer mitnehmen zu wollen; eine Kreatur, die bei aller Intelligenz, die Kara ihr zubilligte, kaum in der Lage war, aus eigenem Entschluß mehr als drei Schritte zu tun. Außerdem hatte Cord nur abgewunken, als sie sich herumdrehen und zu dem an einer fast mannsgroßen Seilwinde hängenden Aufzugkorb gehen wollte, den Gendiks Männer in den letzten Tagen installiert hatten. Die feindlichen Truppen hatten ihn nicht zerstört, so daß er noch immer einen relativ sicheren und bequemen Weg bot, in die tieferen Gefilde der Stadt vorzustoßen.
Aber obwohl es ihr nicht behagte, folgte Kara Cord widerspruchslos zu einem halb heruntergebrannten Haus, das einen guten Block weit entfernt lag. Vorbei an Trümmern und verkohlten Balken, die man nur notdürftig zur Seite geräumt hatte, erreichten sie eine ausgetretene Treppe, über die sie in das hinunterstiegen, was vor zehn oder zwölf Jahren einmal der Wohnraum dieses Hauses gewesen war, jetzt aber als Keller diente.
Cord versah sich mit einem ganzen Arm voller kleiner Leuchtstäbe, entfernte von dreien sorgsam die lichtundurchlässige Hülle und geduldete sich einen Moment, bis die Bakterien im Inneren des Holzschwammes begannen, ihr kaltes grünes Licht zu produzieren. Zwei dieser Stäbe reichte er Kara und Donay, den Rest schob er unter seinen Gürtel und in sein Hemd.
Während der ersten halben Stunde ihres Abstiegs verspürte Kara trotz allem wieder die gleiche Neugier und beinahe Ehrfurcht, die sie beim ersten Mal hier unten empfunden hatte, brachte sie doch jede Stufe, auf die sie ihren Fuß setzte, gewissermaßen ein Jahr in die Vergangenheit zurück. Die unterirdischen Räume und Säle waren in erstaunlich gutem Zustand, bedachte sie, wie alt sie waren und wie tief sie sich schon nach kurzer Zeit unter der Erdoberfläche befanden: Nach dem zehnten Geschoß nicht nur fünfundzwanzig Meter, sondern gleichsam auch ein Jahrhundert weit in der Vergangenheit. Es gab kaum Staub oder Spuren von Verfall, und selbst hier unten trafen sie noch auf die Zeugnisse menschlicher Anwesenheit, die nicht älter als wenige Tage oder Wochen sein konnten: ein achtlos weggeworfener Wurstzipfel, ein Stück schimmelndes Brot, eine Flasche mit Wasser, deren Inhalt schal, aber noch nicht faulig roch, und zu Karas Erstaunen einen Schuh. Sie fragte sich, wie man einen Schuh vergessen konnte, ohne es zu merken. Einmal hörten sie Geräusche, und Kara war sehr sicher, am Rand der grünen Helligkeit, die ihnen vorauseilte, eine Bewegung zu sehen; ein Schatten in der Dunkelheit, das Glitzern eines dunklen Augenpaares, das sie mißtrauisch ansah. Voller Unbehagen dachte sie daran, was Cord oder Angella ihr bei ihrem allerersten Besuch hier unten erzählt hatten, daß nämlich diese Unterwelt das bevorzugte Jagdrevier der Schmuggler und Diebe, der Halsabschneider und Banditen sei. Eigentlich das wahre Schelfheim.
Aber je weiter sie in die Erde vordrangen, desto stiller wurde es rings um sie herum. Sie mußten sich noch immer in der Nähe des Schachtes aufhalten, denn dann und wann glaubte Kara einen kühlen Luftzug auf dem Gesicht zu spüren, der nach Salz roch. Erneut fragte sie sich, warum Cord diesen mühseligen Weg über die Treppen gewählt hatte.
»Weil dies der Weg ist, den auch Elder genommen hat«, antwortete Cord auf ihre Frage. Und Kara schalt sich in Gedanken, daß sie nicht selbst auf diese einfache Erklärung gekommen war. Der verschwommene Schatten, der in der blaßgrünen Helligkeit neben ihr war, zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, er hat eine Menge Umwege gemacht. Aber der Hund ist hier entlanggelaufen. Und ich bin nicht sicher, ob ich den Weg wiederfinde, wenn ich versuche, eine Abkürzung zu nehmen.«
Der bloße Gedanke, sich hier unten zu verirren, versetzte Kara beinahe in Panik. So etwas war schon häufiger vorgekommen, und selbst im oberirdischen Schelfheim sollen sich schon Menschen hoffnungslos verlaufen haben.
Der Weg hinunter war länger, als Kara befürchtet hatte. Sie wußte, daß die Leuchtstäbe eine Lebensdauer von gut drei Stunden hatten, und eigentlich hätte sie allein die große Zahl, die Cord mitgenommen hatte, warnen müssen. Trotzdem war sie erstaunt, als Donays Stab an Leuchtkraft verlor und dann erlosch und zu Staub zerfiel. Cord blieb stehen, reichte Donay einen neuen Stab und tauschte vorsichtshalber auch seinen und Karas aus, ehe sie ihren Weg fortsetzten.
Nach einer Weile wurde der Weg wirklich mühsam. Kara hatte schon nach einer halben Stunde aufgehört, die Stufen zu zählen. Sie hatte auch bisher ganz bewußt jeden Gedanken daran verdrängt, daß sie all die Tausende und Abertausende von Stufen wieder hinaufsteigen mußten. Die Vorstellung einer drei oder vier Meilen hohen Treppe war im Moment mehr, als sie verkraften konnte. Eines war ihr jedoch klar: Sie waren längst an jener Ebene vorbei, auf der sie damals die Leichen der drei Drachenkämpfer gefunden hatten. Sie unterbrach ihr kräftesparendes Schweigen zum erstenmal, um Cord auf diesen scheinbaren Widerspruch anzusprechen.
»Ich weiß«, sagte er. Er machte eine vage Geste in die Schwärze hinein. »Es gibt eine Spur, die dort hinführt. Sie endet im Nichts. Dieser Teil der Katakomben ist mit abgestürzt.«