»Niemand hat bisher bewiesen, daß Elder die drei getötet hat«, sagte Donay.
»Wer soll es sonst gewesen sein? Keiner wußte, daß sie erschossen wurden. Keiner außer denen, die sie gefunden haben. Und wir haben es niemandem erzählt«, erwiderte Cord.
»Ich habe nicht gesagt, daß er sie nicht gesehen hat«, sagte Donay ruhig. »Ich bin sogar sicher, daß er uns eine Menge verschweigt.«
»Wieso verteidigst du ihn dann?« fragte Cord.
»Das tue ich ja gar nicht«, antwortete Donay. »Ich mag diesen Kerl nicht. Ich möchte nur nicht, daß wir alles ihm anhängen, weil es so bequem ist, und dabei vielleicht etwas Wichtiges übersehen.«
Cord murmelte eine übellaunige Antwort, und dann schwiegen sie wieder, weil der Weg immer mehr Kraft und Aufmerksamkeit von ihnen verlangte. Sie mußten sich nahe der tiefsten Ebenen Schelfheims befinden, die noch zugänglich waren. Die Treppen und Gänge, durch die sie kamen, waren zum größten Teil halb oder ganz zusammengebrochen, so daß sie bald mehr kletterten als wirklich gingen. Der Staub, den sie bei jedem Schritt aufwirbelten, brachte sie zum Husten. Manchmal tasteten sie sich blind und mit klopfenden Herzen über eine Treppe, deren Stufen unter dem Schmutz von Jahrzehntausenden nicht mehr zu sehen waren, und ein paarmal glaubte Kara fest, daß sie sich verirrt hatten und es nicht mehr weiterging, wenn sie an Stellen kamen, wo Decken und Wände zusammengebrochen waren oder der Weg vor einer massiven Mauer zu enden schien.
Aber Cord fand jedesmal einen Durchschlupf, irgendeinen Spalt, durch den sie sich hindurchquetschen konnten. Ohne den Hund, dachte Kara, der Cord hier heruntergeführt hatte, hätten sie wahrscheinlich in einer Million Jahre nicht die Chance gehabt, Elders kleines Geheimnis aufzudecken.
Sie waren alle vier völlig erschöpft und so verdreckt, daß ihre Gesichter kaum mehr zu erkennen waren, als sie endlich die unterste Ebene der Stadt erreichten. Cord war noch einmal stehengeblieben und hatte einen weiteren Leuchtstab für sich und zwei zusätzliche für Donay und sie selbst entzündet, so daß das Licht ein wenig heller wurde, aber im Grunde unterschied Kara ihn, Donay und den Erinnerer - der sich als einzig angenehme Enttäuschung dieses Ausfluges erwiesen hatte, denn er hatte ihnen nicht die mindesten Schwierigkeiten bereitet - nur noch an ihren Schattengestalten.
Sie befanden sich in einem langgestreckten, rechteckigen Raum, der sich auf den ersten Blick in nichts von dem unterschied, was sie auf dem Weg hierher gesehen hatte. Der Gang war zum Teil verschüttet, und die Kruste, die die Zeit auf den Wänden und dem Boden zurückgelassen hatte, verlieh allen Konturen etwas sonderbar Weiches und Fließendes, als hätte jemand diesen Raum mit flüssigem Wachs ausgegossen. Dann erkannte Kara ihren Irrtum. Verblüfft ließ sie sich in die Hocke hinabsinken, legte einen der Leuchtstäbe aus der Hand und streckte beinahe furchtsam die Finger aus. Cord sah ihr verwirrt und Donay eindeutig alarmiert zu, während der Erinnerer nur idiotisch grinste.
Karas Fingerspitzen tauchten in die Staubschicht ein und trafen auf einen sehr harten Widerstand, der aber nicht aus Stein war.
»Was hast du?« fragte Donay. Er trat neben sie und streckte wie sie die Hand aus. Aber er berührte den Boden nicht, sondern sah sehr aufmerksam zu, wie Kara die Staubschicht beiseite wischte, vorsichtig, um die grauen Flocken nicht aufzuwirbeln und wieder husten zu müssen.
»Metall!« flüsterte er. »Das ist Metall!«
Cord trat schweigend hinter ihn und beugte sich vor. Er sah verwirrt aus.
»Geschmolzenes Metall«, fuhr Donay in fast ehrfürchtigem Ton fort. Er legte den Kopf in den Nacken und sah Cord gleichermaßen fragend wie fassungslos an. »Das ist Stahl!« flüsterte er.
»Dieser ganze Raum besteht aus geschmolzenem Stahl.«
Cord sagte auch jetzt noch nichts, ließ sich aber mit einer beinahe aggressiven Bewegung auf ein Knie herabsinken und überzeugte sich davon, daß Donay die Wahrheit sprach. »Das ist mir gar nicht aufgefallen, als ich gestern hier war«, sagte er.
Donay wollte antworten, aber Kara hinderte ihn daran, indem sie rasch aufstand und eine Geste auf die linke Seite des Raumes machte, wo das grüne Licht die sonderbar deformierten Konturen einer Tür enthüllte.
»Kommt weiter«, sagte sie. »Ich habe keine Lust, länger als unbedingt nötig hier unten zu bleiben.«
Gebückt trat sie durch die Tür, machte einen Schritt zur Seite und blieb stehen. »Ist dies der Raum, von dem du gesprochen hast?« fragte sie, während sie die beiden Leuchtstäbe über den Kopf hob. Das grüne Licht vermochte die Kammer nicht ganz zu erhellen, aber sie sah, daß sie viel kleiner war als der Gang draußen - und nicht rechteckig, sondern rund. In einer Stadt wie Schelfheim, in der jeder gerade so baute, wie es ihm in den Sinn kam, war das an sich nichts Außergewöhnliches. Trotzdem beunruhigte sie irgend etwas. Cord trat dicht gefolgt von Donay und dem Erinnerer hinter ihr durch die Tür, nickte wortlos und legte seine beiden Leuchtstäbe auf den Boden. Rasch hintereinander ließ er vier weitere der lichtspendenden Hölzer aufflammen und verteilte sie in einem Halbkreis vor der Tür, so daß sie nunmehr beinahe jede Einzelheit der kleinen Kammer sehen konnten. Kara sah, daß ihre Frage überflüssig gewesen war - in der Staubschicht am Boden waren die Spuren zu sehen, die Cord, der Suchhund, und vor ihnen Elder hinterlassen hatten.
Die Kammer bestand nicht aus Metall, aber auch nicht aus gewöhnlichem Stein. Von einem Gefühl beunruhigt, dessen Ursache sie nicht ergründen konnte, trat Kara näher an die Wand neben der Tür heran und hob den Leuchtstab dicht vor das Gesicht. In dem fast schattenlosen grünen Licht erkannte sie eine Oberfläche, die so rauh wie Sandpapier war, aber völlig fugenlos. Nirgends war ein Spalt zu erkennen, keine noch so kleine Unterbrechung - dieser Raum mußte direkt aus einem einzigen, gewaltigen Steinblock herausgemeißelt worden sein.
Die Wände waren kahl und nackt bis auf die sinnlosen Muster, die das Alter darauf hinterlassen hatte. Es gab keine Fenster, keine Nischen, keine weitere Tür - nichts bis auf den Eingang und eine mannshohe Tafel, die unweit der Tür in die Wand eingelassen war.
Im gleichen Moment, in dem Karas Blick auf die Tafel fiel, begriff sie, was Cord gemeint hatte.
Sie wußte nicht, ob es eine Schrift war, ein Bild oder eine Mischung aus beidem, aber das spielte auch keine Rolle. Cord hatte behauptet, daß ihn der Anblick irgendwie beunruhigte.
Kara erfüllte er mit einer Angst, die beinahe an Panik grenzte.
Sie konnte es nicht erklären. Die fremdartigen Zeichen und Linien ergaben keinen Sinn, es waren keine Buchstaben irgendeiner ihr bekannten Sprache, sondern allenfalls Symbole, Zeichen, die nur dem einen Zweck zu dienen schienen, den Betrachter in Schrecken und Furcht zu versetzen.
Und nicht nur Kara überwältigte die Angst. Als sie erschrocken den Blick von der Tafel löste, sah sie, daß auch Donay für einen Moment wie gelähmt dastand. Seine Hände zitterten ganz leicht.
Sie sah Cord an und glaubte, daß auch er nervöser geworden war. Aber von Angst oder gar dem Gefühl von Panik war bei ihm nichts zu spüren. Die Tafel beunruhigte ihn lediglich.
Mit einem raschen Schritt trat Kara zwischen Donay und die Inschrift, um ihn aus dem Bann der bösen Symbole zu lösen.
Aber er tat etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: Mit einer beinahe hastigen Bewegung hob er die Arme und schob sie aus dem Weg. Als er sie berührte, spürte sie, wie heftig seine Hände zitterten. Sein Herz schlug so hart, daß sie seinen Puls bis in seine Fingerspitzen fühlen konnte.
»Donay!« sagte sie. »Sieh nicht hin! Du...«
»Laß mich!« unterbrach sie Donay. Seine Stimme war so leise, daß Kara sie kaum verstand. »Ich bin in Ordnung.«