Cord wollte etwas sagen, aber Donay ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern wedelte ungeduldig mit der Hand.
»Noch einen Versuch«, bat er.
Ihre innere Stimme riet ihr, nein zu sagen. Aber gleichzeitig begriff sie, daß es wahrscheinlich sehr viel schneller ging, wenn sie Donay diesen letzten Versuch gestattete. Wortlos nickte sie.
Donay machte einen großen Schritt von der Schrifttafel fort.
»Befehl«, sagte er. »Untersuche die Symbole nach einem mathematisch oder sonstwie gearteten Hinweis auf einen eventuell vorhandenen Öffnungsmechanismus.«
»Umständlicher ging es wohl nicht mehr, wie?« knurrte Cord.
Donay brachte ihn mit einem ärgerlichen Blick zum Verstummen, und auch Kara sah ihn mahnend an.
Der Erinnerer trat zwei Schritte vor. Der Funke in seinen kleinen, trüben Idiotenaugen schien plötzlich heller zu brennen, während sein Blick rasch und ohne zu blinzeln über die Zeichen huschte. Das Gesicht des Erinnerers erschlaffte immer mehr, im gleichen Maße, in dem die Konzentration in seinem Blick zunahm. Sein Unterkiefer klappte herunter, die Zunge glitt haltlos über seine Zähne, und ein dicker Speichelfaden rann aus seinem Mundwinkel und lief an seinem Kinn hinab. Ein ekelerregender Geruch breitete sich aus.
»Das ist widerlich«, sagte Kara.
»Widerlich«, korrigierte sie Donay in überheblichem, belehrendem Tonfall, »sind Gehirne unter Glasglocken, die man in künstliche Körper stopft.«
Kara starrte ihn ärgerlich an. Sie wußte, daß Donay das nur gesagt hatte, um sie zu verletzen. Was ihr aber nicht klar gewesen war, war die Tatsache, wie sehr es ihn verletzte, wenn man Irata angriff. Offensichtlich war der Erinnerer für Donay mehr als ein lebendiges Werkzeug. »Er braucht all seine Kraft zum Nachdenken, wie?« fragte sie ironisch.
»Ganz genau so ist es«, sagte Donay betont.
Mit einem verlegenen Lächeln drehte Kara sich herum, ließ ihn und seinen sabbernden Erinnererfreund stehen und ging zu Cord hinüber, der sich zur Tür zurückgezogen hatte und im Schein seines Leuchtstabes auf den Gang hinausblickte.
»Ich möchte wissen, was er hier unten gesucht hat«, murmelte Cord, ohne sie anzusehen.
»Wer?«
»Elder«, antwortete der Krieger. »Es muß etwas ziemlich Wichtiges gewesen sein, wenn er sich die Mühe gemacht hat, hier herunterzukommen.«
Kara pflichtete ihm mit einem stummen Kopfnicken bei. Sie hatten annähernd vier Stunden gebraucht, um hier herunterzukommen - und sie hatten sich beinahe die ganze Zeit treppab bewegt. Den größten Teil des Weges hinauf würden sie zwar mit dem gerade installierten Aufzug hinter sich bringen, aber Elder hatte das nicht gekonnt, weil es diesen Aufzug noch nicht gegeben hatte. Eine Treppe, die drei oder vier Meilen hoch war...
Nein. Ihre Phantasie reichte nicht aus, sich das auszumalen. Es mußte die Hölle sein.
»Was ist das hier?« murmelte Cord.
»Die Alte Welt, Cord.«
Kara hatte nicht einmal bemerkt, daß sich Donay von der Seite des Erinnerers gelöst hatte und zu ihnen getreten war.
Cord löste seinen Blick von dem unheimlichen Schatten auf der anderen Seite der Tür und maß Donay mit einem verächtlichen Blick. »Wohl kaum«, sagte er.
»Ich nehme an, wir sind auf der alleruntersten Ebene«, sagte Donay. »Oder zumindest auf einer der untersten. Unter uns ist nur noch Fels - und Karas Meer.«
»Und?« fragte Kara leicht gereizt. Wieso bezeichnete er es als ihr Meer!
Donay deutete mit einer übertriebenen Geste in den Gang hinaus. »Wie alt ist diese Stadt? Zweihunderttausend Jahre? Oder noch älter? Damals hat niemand Korridore aus Stahl gebaut. Und das hier...« Er trat zurück und machte mit der gleichen Hand eine theatralische Bewegung in die Runde. »... habe ich auch noch nie gesehen. Ich verwette meine rechte Hand, daß dieser Gang und dieser Raum hier und alles, was sich hinter jener Tür verbirgt, zur Alten Welt gehören.«
Kara überlegte einen Moment. Donays Worte entbehrten nicht einer gewissen Logik - zumal sie vielleicht erklären würden, warum Elder überhaupt hier heruntergekommen war. Zugleich sträubte sich etwas in ihr, sie zu glauben. Die Alte Welt war etwas, von dem man sprach und von dem man manchmal noch Überreste fand. Doch was von ihr geblieben war, hatte bisher nur Schrecken und Unglück gebracht. Aber spürte sie nicht noch immer das bohrende Unwohlsein, das deutliche Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, an dem sie besser nicht wäre?
»Ich bin sicher, daß diese Ebene der Stadt das erste, ursprüngliche Schelfheim ist«, fuhr Donay fort. Auf seinem Gesicht erschien schon wieder jener fiebrige Glanz der Begeisterung, den Kara schon beim Anblick der Tür bemerkt hatte. »Wenn wir genügend Zeit hätten und eine vernünftige Ausrüstung, um uns hier unten umzusehen, dann könnten wir...«
»Das haben wir aber nicht«, unterbrach ihn Kara grob. »Und außerdem ist es Unsinn.«
»Sieh dich doch um!« widersprach Donay. »Du kennst die Geschichte Schelfheims so gut wie jeder andere. Die Überlebenden des Zehnten Krieges sind hierher gekommen, weil dies der einzige Ort auf diesem ganzen Planeten war, an dem sie noch leben konnten. Du weißt, wie sie waren. Kaum mehr als Tiere. Glaubst du, sie hätten Häuser aus Stahl gebaut!«
Kara blickte ihn fast wütend an, dann erkannte sie den Fehler in seinen Worten. »Das müssen sie wohl«, sagte sie. »Das alles hier lag damals nämlich zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel. Anscheinend kennst du die Geschichte deiner Heimatstadt nicht so gut wie ich. Zumindest scheinst du vergessen zu haben, woher ihr Name stammt.«
Aber Donay war keineswegs so irritiert, wie sie angenommen hatte. Er zuckte nur mit den Schultern. »Und! Wer sagt dir, daß all das hier nicht unter Wasser gelegen hat!«
»Jetzt dreht er völlig durch«, sagte Cord. »Eine Stadt auf dem Meeresgrund, wie? Wahrscheinlich sind sie auf Fischen geritten und haben Wasser geatmet!«
»Und warum nicht?« gab Donay ernst zurück. »Sie sind immerhin zu den Sternen geflogen, Cord.«
»Das sind Legenden!« sagte Cord wegwerfend. »Nichts als Ammenmärchen.«
»Sicher«, meinte Donay höhnisch. »So wie die Legenden von den verschwundenen Meeren, die noch da sind. Und die, die jetzt irgendwo dort draußen im Schlund hocken und einen Plan ausbrüten, wie sie uns alle umbringen können.«
»Genug!« sagte Kara. Donay holte zu einer zornigen Entgegnung Luft, aber sie schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab und fuhr in ungeduldig-aggressivem Tonfall fort: »Wie lange braucht der Erinnerer noch?«
»Nicht mehr lange«, antwortete Donay hastig.
»Das hoffe ich«, sagte Cord. »Während dein schwachsinniger Freund da drüben sich vollsabbert, zünden sie vielleicht über unseren Köpfen den Rest der Welt an.«
»Ja«, antwortete Donay mit zornbebender Stimme. »Und wir finden vielleicht hinter dieser Tür etwas, das sie daran hindert, genau das zu tun.«
»Ich gebe dir noch fünf Minuten«, sagte sie in ganz bewußt sachlichem Ton. »Danach kehren wir zur Oberfläche zurück, und ich werde Elder fragen, was diese Zeichen bedeuten. Falls sie etwas bedeuten.«
Der Ton, in dem sie gesprochen hatte, schien Donay klarzumachen, wie sinnlos jede weitere Diskussion war, denn er sah sie nur einen Moment vorwurfsvoll an, dann drehte er sich herum und ging zu Irata zurück.
Kara wartete, bis er außer Hörweite war. »Das war nicht sehr geschickt von dir«, sagte sie leise. »Er hängt an Irata.«
»Ja, wie eine Mutter«, sagte Cord übellaunig. »Immerhin scheint er ihn sogar zu wickeln und trockenzulegen.«