Neben diesen beiden Kolossen gab es Dutzende von anderen, kleineren Gestalten, die allesamt aus einem Alptraum entsprungen zu sein schienen. Viele von ihnen waren so groß wie ein Mensch.
Kara widerstand der Versuchung, dem Spuk zumindest in dieser Straße mit einem weiteren Feuerstrahl Markors ein Ende zu bereiten. Die Flammen waren die mächtigste Waffe der Drachen, aber eben aus diesem Grund mußten sie vorsichtig damit umgehen. Es fiel einem Drachen nicht leicht, Feuer zu speien. Es bereitete ihm sowohl Schmerzen als auch große Mühe, und Kara hatte von Fällen gehört, in denen Drachenreiter ihre Tiere umgebracht hatten, indem sie sie zwangen, zu oft und zu lange Feuer zu speien.
Sie lenkte Markor wieder nach Norden und ließ ihn gleichzeitig ein wenig Höhe gewinnen, als die Klippe des Kontinentalschelfs unter ihr davonglitt und sich der Drache plötzlich inmitten der tückischen Windböen befand, die seit zweihundert Jahrtausenden an Schelfheims Fundamenten rüttelten. Geschickt nutzte sie diese Böen aus, um den riesigen Drachen fast ohne einen einzigen Flügelschlag ein Stück weiter in die Höhe und zugleich von der Klippe forttreiben zu lassen, und begann dann in enger werdenden Spiralen wieder in die Tiefe zu sinken. Das schier endlose Häusermeer Schelfheims breitete sich für einen Moment wie ein bizarres Spielbrett der Götter unter ihr aus, schien dann in die Höhe zu steigen und wurde zur Zinnenkrone der ungeheuerlichen Wehrmauer, die das Leben auf dem Land gegen das auf dem Meeresgrund errichtet hatte.
Die annähernd drei Meilen hohe, lotrechte Klippe des Kontinentalschelfs war eine Bastion, und sie wurde im Moment von einer Armee berannt, deren bloßer Anblick Kara einen Schauer des Entsetzens über den Rücken laufen ließ. Ungeachtet der heulenden Windböen, die immer wieder einzelne, manchmal aber auch Dutzende oder Hunderte der Angreifer von der Wand pflückte, bewegte sich eine unvorstellbare Masse von meist ebenso unvorstellbaren Kreaturen an der Wand empor.
Manche von ihnen waren so groß, daß sie vermutlich selbst einem Drachen gefährlich werden konnten, andere wieder so winzig, daß sie aus der Entfernung gar nicht zu sehen waren, dafür aber nach Millionen oder auch Milliarden zählten. Kara begriff voller jähem Schrecken, daß das, was sie oben in der Stadt gesehen hatte, nur die Vorhut dieser unvorstellbaren Invasion gewesen war - einige wenige Späher, denen ein Heer folgte, das die Stadt dort oben auf der Klippe und ihre Bewohner einfach überrennen würde, gleichgültig, was sie taten, und gleichgültig, ob sie ein Dutzend Drachen zu ihrer Unterstützung hatten oder nicht.
Links von ihr loderte orangerotes Feuer auf. Sie wandte den Kopf, korrigierte gleichzeitig Markors Kurs, damit er der Klippe und seinen entsetzlichen Bewohnern nicht zu nahe kam, und erblickte eine Gruppe von drei Drachen, die sich der Wand näherten und wieder davonglitten, wobei sie versuchten, eine Schneise aus Feuer zu legen, die der krabbelnden Monsterarmee den Weg verwehrte. Die Idee war gut, dachte Kara, aber leider undurchführbar. Sie hätten nicht zwölf, sondern zweihundert Drachen gebraucht, um die Stadt auf diesem Wege zu schützen.
Sie signalisierte den drei Drachenreitern, in ihrem sinnlosen Tun innezuhalten und wieder höherzusteigen, lenkte Markor selbst in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was die Bewohner des Schlund- dschungels bewogen haben mochte, alle im gleichen Moment ihren Wohnort zu wechseln. Aber sie konnte sich nicht mit einer Ahnung zufriedengeben, wenn das Leben von Millionen Menschen gefährdet war.
Markors Flug wurde unruhiger, je mehr sie sich dem Dschungel näherten. Die Anpassung und der schneidende Wind trieben Kara die Tränen in die Augen, so daß sie im ersten Moment kaum mehr als ein verschwommenes Muster aus Farben und Bewegung unter sich wahrnehmen konnte. Halb blind tastete sie nach rechts, fand die Schutzbrille, die an Markors Sattel befestigt war, und setzte sie auf, nachdem sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen gewischt hatte. Sie konnte jetzt wieder klar sehen, aber der Dschungel unter ihr blieb ein Gewusel aus brauner glitzernder Bewegung, das mehr an die Oberfläche eines Ozeans aus verschmutztem Teer als an den gewohnten Anblick der Baumwipfel erinnerte. Wo das alles überwuchernde Grün des Blättermeeres gewesen war, da tobte jetzt eine unvorstellbare Masse der gleichen Kreaturen, die auch die Klippe und die Stadt attackierten. Es war, als hätte der Schlund jedes bißchen Leben, das in der Lage war, sich von der Stelle zu bewegen, aufgeboten, um hier eine apokalyptische Generalprobe des Weltunterganges abzuhalten.
Das brodelnde Meer einander aus purer Todesangst umbringender Geschöpfte erstreckte sich unter ihr wie eine braunschwarze Flutwelle, die gegen den Fuß der Klippe gebrandet war und sich nach Osten und Westen in der Entfernung verlor.
Was im Norden war, das verbarg sich unter der niemals wirklich aufreißenden Wolkendecke des Schlundes. Und Kara wollte auch gar nicht wissen, wie es dort aussah. Vielleicht, weil sie schon wußte, was sie erwarten würde.
Trotzdem lenkte sie Markor nach einem kurzen Zögern nach Norden und hielt instinktiv den Atem an, als der Drache in die grauen Wolkenschicht eintauchte. Für zwei, drei Sekunden umgab sie nichts als Feuchtigkeit und Kälte, dann waren die Wolken plötzlich über ihr, und sie sah, daß sich die Armee der Ungeheuer auch in dieser Richtung noch sicherlich fünf oder sechs Meilen weit erstreckte.
Dahinter war der Dschungel verschwunden. Und mit ihm die Masse der flüchtenden Tiere. Aus dem unsterblichen Grün des Waldes war eine Ödnis aus blattlosen Bäumen geworden; die von einer dünnen weißen Schicht wie von einem Eispanzer eingehüllt wurden. Es sah aus, als wäre der Wald dort im Griff einer Eiszeit erstarrt, die binnen eines Atemzuges gekommen war.
Aber Kara wußte, daß das, was sie sah, alles andere als die Abwesenheit von Leben bedeutete. Die weiße Schicht war nicht starr, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte, sondern bewegte sich auf eine Weise, mit der das Auge nicht fertig zu werden vermochte. Es war ein Wogen und Gleiten, das die ganze Welt der belebten und unbewohnten Dinge erfaßt zu haben schien, als wäre jedes winzige Teilchen der Schöpfung in diese zuckende, fressende Bewegung geraten - ein mehrere Meilen tiefer, gerader Streifen, der sich langsam, aber vollkommen unaufhaltsam nach Süden schob, wobei er alles auslöschte, was er berührte. Zurück blieb das Skelett des Waldes, der seit Jahrtausenden hier unten gewachsen war.
Es war Gäa.
Im Anblick dieser unvorstellbaren Vernichtung - die im Grunde doch nur eine Verwandlung bedeutete - fragte sich Kara, wieso es nicht schon längst geschehen war. Die riesige, auf eine für Menschen vollkommen unverständliche Art denkende Kreatur aus den Sümpfen des Schlundes floh vor den heranrückenden Wassermassen eines Meeres, das sein Reich zurückforderte.
Kara wußte, daß es eine Flucht in den Tod war. Der Angriff des wimmelnden weißen Pilzgeflechtes, der die Bewohner des Schlundes zu ihrer Massenflucht veranlaßt hatte, war nur ein letztes Aufbäumen. Gäas Reich waren die lichtlosen, heißen Sümpfe unter dem Dschungel. Wäre sie fähig gewesen, in anderen Lebensräumen zu existieren und sie zu erobern, dann hätte sie es längst getan, denn obgleich sie und diese winzigen verwundbaren Wesen, die die Welt über dem Schlund bewohnten, einmal für kurze Zeit Verbündete gegen einen gemeinsamen Feind gewesen waren, waren ihr doch Begriffe wie Mitleid und Rücksicht völlig fremd. Die Katastrophe, deren Zeugin Kara wurde, war nichts als ihr letzter verzweifelter Versuch, ihre eigene sterbende Welt zu verlassen, wobei sie einer anderen samt ihren Bewohnern den Untergang brachte. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt des Dschungels befand sich auf der Flucht vor der unaufhaltsam näherrückenden, alles verschlingenden Masse aus dünnen, beweglichen Pilzfäden, deren Gesamtheit Gäa war. Und die einzige Richtung, in die sie fliehen konnten, war nach Süden.