Hrhon sah ihr schweigend, wenn auch mit unübersehbarer Mißbilligung zu. Er half ihr, sich abzutrocknen. Kara zitterte am ganzen Leib. Sie brauchte ein Feuer, irgend etwas, um sich zu wärmen, wenn sie sich nicht eine tödliche Unterkühlung zuziehen oder gleich erfrieren wollte.
»Wo sind sie?« fragte sie mit klappernden Zähnen.
Hrhon deutete abermals auf die Felsen. »Sssiehmhlisss ghenhau hinthehr dhir.«
Soviel zu dem Gedanken an ein Feuer. Kara trat auf der Stelle, um sich durch die Bewegung ein wenig Wärme zu verschaffen. Nach einigen Augenblicken wandte sie sich um, bewegte sich vorsichtig auf die Felsen zu und suchte nach einer Lücke, um hindurchzuspähen. Es war gar nicht so einfach, denn Hrhon hatte die Stelle, an der er sie an Land gebracht hatte, sorgfältig ausgewählt.
Als es ihr schließlich gelang, einen Blick über den Rand ihrer improvisierten Deckung zu werfen, bot sich ihr ein Bild, wie sie es sich schlimmer kaum hätte vorstellen können.
Der Strand glich einem Schlachtfeld. Die Fremden hatten ihre eigenen Toten und Verwundeten weggeschafft, aber die reglosen Körper, die zerschmettert oder verbrannt auf den Felsen lagen, waren beinahe nicht zu zählen. Zwei, wenn nicht drei Dutzend verendeter Flieger lagen zwischen den Felsen oder im Wasser; die Chitinpanzer einiger der riesigen Käferkreaturen brannten noch immer oder glühten wie trockene Holzkohle.
Kara schauderte, dann riß sie sich von dem furchtbaren Anblick los. Wie Hrhon gesagt hatte, befanden sich nur noch eine Handvoll der Blauuniformierten an Land. Sie liefen mit gesenkten Häuptern zwischen den Toten umher. Manchmal bückten sie sich, um etwas aufzuheben, das sie in durchsichtige Säcke warfen, die sie an den Seiten trugen. Kara mußte ihnen eine ganze Weile zusehen, ehe ihr klar wurde, was diese Männer dort taten: Sie beseitigten ihre Spuren. Zwei von ihnen lasen sogar die Splitter einer zerborstenen Flugscheibe auf, andere suchten nach zerbrochenen Waffen, ja, sogar nach Uniformresten. Die Fremden schienen panisch darauf bedacht zu sein, jedes Anzeichen ihrer Anwesenheit zu verwischen. Natürlich konnten sie die stummen Zeugen des Gemetzels nicht beseitigen: die toten Soldaten der Stadtgarde, die abgeschossenen Flieger und die schwarzen Brandspuren ihrer Waffen auf den Felsen. Aber sie konnten verhindern, daß irgend jemand herausfand, wer für dieses Massaker verantwortlich war.
Die Zeit verstrich mit quälender Langsamkeit. Eine Stunde oder vielleicht zwei vergingen, bis die Männer ihre schreckliche Säuberungsaktion beendeten und einer nach dem anderen zum Schiff zurückkehrten.
Nur einer schritt noch am Strand entlang, offenbar mit der allerletzten Inspektion beschäftigt.
Kara warf Hrhon einen auffordernden Blick zu. Sie hatte nicht vor, den Burschen so einfach davonkommen zu lassen.
Lautlos und sorgsam darauf bedacht, die Felsen als Deckung zwischen sich und dem Meer zu halten, näherte sie sich dem Punkt, an dem sie den Fremden vermutete. Plötzlich hörte sie Schritte und gab Hrhon ein Zeichen, stehenzubleiben. Die Schritte kamen näher, brachen ab, und dann hörte sie ein knackendes Geräusch und die Stimme des Fremden: »Okay, hier scheint alles in Ordnung zu sein... ja, ich glaube schon... wie? Unsinn. Die brauchen Stunden, bis sie hier sind... macht ruhig weiter. Ich komme in ein paar Minuten nach.«
Kara wartete, bis ein neuerliches Knacken verriet, daß das Funkgerät abgeschaltet war, dann trat sie aus ihrer Deckung hervor und sagte: »Das glaube ich nicht.«
Der Mann reagierte schneller als sie erwartet hatte. Er erstarrte weder vor Schrecken, noch versuchte er seine Waffe zu ziehen oder irgendeine andere Dummheit zu begehen. Er drehte sich ganz ruhig herum und sah Kara fast gelassen an. Obwohl sich auch vor seinem Gesicht eine der rauchfarbenen Glasscheiben befand, erkannte Kara ihn sofort.
»Du schon wieder?« sagte er.
»Die Welt ist klein«, antwortete Kara. »Hast du einen neuen Schneider?« Sie machte eine Kopfbewegung auf die fremdartig geschnittene Kleidung. »Das Zeug steht dir gut. Aber ich finde trotzdem, daß die Lumpen, die du oben getragen hast, irgendwie besser zu dir paßten.«
Der Fremde hob das Visier seines Helms in die Höhe. Der Blick seiner dunklen Augen war ernst und aufmerksam, aber ohne die geringste Spur von Furcht. »Es freut mich, daß du mich wiedererkennst«, sagte er.
Kara schürzte geringschätzig die Lippen. »Ich merke mir jedes Gesicht, in das ich schon einmal hineingetreten habe.«
Für einen Moment blitzte es zornig in den Augen des Mannes auf. »Was willst du?« fragte er. »Wieso bist du zurückgekommen? Du irrst dich, wenn du glaubst, ich wäre ein edler Ritter, der dich aus purem Großmut laufenläßt.« Seine Hand tastete nach dem kleinen Funkgerät, das an seinem Gürtel war.
»Damit rechne ich keine Sekunde«, sagte Kara. »Übrigens - wenn du die Finger noch weiter bewegst, schneide ich sie dir ab.«
Der Bursche starrte sie verblüfft an - aber er zog gehorsam die Hand zurück. »Was willst du?« fragte er noch einmal.
»Mit dir abrechnen«, antwortete Kara. »Deine Leute haben Angella umgebracht.«
»Ich weiß nicht, wer diese Angella ist«, antwortete der andere achselzuckend. »Und selbst wenn - es ist Krieg. Und einen Krieg ohne Opfer gibt es nicht.«
Roter Zorn verdunkelte Karas Blick. Ihre Hand zuckte zum Schwert, aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Sie begriff, daß der Fremde sie provozieren wollte.
»Krieg?« fragte sie mühsam beherrscht. »Ich wüßte nicht, daß wir Krieg mit euch haben.«
»Aber wir mit euch. Du willst also mit mir -« er lachte »- abrechnen? Du allein?«
Hrhon trat hinter seinem Felsen hervor, und Kara sagte ruhig.
»Und er.«
Das Gesicht unter dem Visierhelm erbleichte. »Also so ist das«, murmelte er.
»Ghenhau«, zischte Hrhon. Seine Stimme bebte vor Haß.
»Nein«, sagte Kara. »So ist das nicht. Nur du und ich. Hrhon - du hältst dich raus, egal, was passiert.«
Sie schlug den nassen Mantel zurück, so daß er den Griff ihres Schwertes sehen konnte. Einen Moment lang musterte er Kara sehr aufmerksam. Dann nickte er.
»Du meinst das ernst, wie?«
»Nur du und ich.«
»Ich habe nicht einmal eine Waffe.«
Sie machte eine zornige Handbewegung auf die toten Gardesoldaten. »Hier liegen genug herum. Bedien dich.«
Nach einem letzten, nervösen Blick auf den Waga ging der Fremde zu einem der Leichname, zog dessen Schwert aus dem Gürtel und machte ein paar spielerische Hiebe. Kara runzelte besorgt die Stirn, als sie sah, wie leicht er mit der zentnerschweren Waffe hantierte.
»Bist du sicher, daß du den Kampf wirklich willst, Kindchen?« fragte der Mann, während er weiter mit dem Schwert Löcher in die Luft hieb und versuchte, sich an das Gewicht der Klinge zu gewöhnen. Er hielt es nicht einmal für nötig, sie dabei anzusehen. »Wir hatten schon einmal das Vergnügen, nicht? Ich warne dich. Ich bin kein Gentleman.«
Kara hatte keine Ahnung, was ein Gentleman war. Es interessierte sie auch nicht. »Ich weiß«, sagte sie ruhig. »Aber du hast eines vergessen: Ich habe eine Menge schmutziger Tricks auf Lager.«
Für eine halbe Sekunde erstarrte er. Dann fuhr er herum.
Seine Augen weiteten sich. »Verdammtes Mutantengesochs«, murmelte er.
Kara lächelte. »Ziemlich schmutzig sogar«, sagte sie.
Dann hob sie die Laserpistole, zielte auf sein Gesicht und erschoß ihn.
18
Es war nicht der erste Fehler, den sie beging, und es würde auch ganz gewiß nicht der letzte sein - aber den Mann zu töten war ihr bis dahin schwerster Fehler gewesen. Es gab buchstäblich Tausende von Fragen, die sie ihm hätten stellen können, und es hätte vielleicht eine Menge geändert, hätte er auch nur jede zehnte beantwortet. So aber war es gleichgültig, denn Kara kehrte nach ihrem Abenteuer in und unter Schelfheim mit letzter Kraft in den Drachenhort zurück und sank in ein tiefes, gefährliches Fieber. Ihr Körper war erschöpft, weil Kara ihn über alle Maßen beansprucht hatte. Sie hatte zuviel gesehen, zuviel ertragen, was man eigentlich nicht sehen und ertragen konnte. Den Umstand, daß sie überhaupt am Leben blieb, verdankte sie der Tatsache, daß der Hort seine besten Magier und all seine Macht aufbot, um Heiler aus allen Teilen des Landes kommen zu lassen, die sich um sie kümmerten. Kara wußte nichts von diesem panischen Kampf um ihr Leben - vermutlich hätte sie es empört abgelehnt, anders als irgendein anderer Bewohner des Hortes behandelt zu werden. Zum Glück fragte sie niemand, und so verließ sie nach zwei Wochen zum ersten Mal wieder ihr Zimmer und ging in die riesigen Höhlen unter dem Hort, wo die Drachen lebten.