»Bist du sicher?« fragte Storm erschrocken. Es war eine dumme Frage, die nur seinen Schrecken verdeutlichte, und Aires antwortete auch nicht darauf. Wenn es einen Menschen gab, der die geheimen Zeichen der Natur zu erkennen und zu deuten wußte, dann war es die Magierin.
»Du glaubst also auch, daß irgend jemand dahintersteckt«, sagte Kara. Ihr fiel selbst auf, daß ihre Stimme beinahe erleichtert klang, und sie schämte sich ein wenig.
Aires nickte. »Für meinen Geschmack sind das zu viele Zufälle«, sagte sie.
»Dann sollten wir etwas dagegen unternehmen«, bemerkte Storm. »Wir müssen unsere Leute an jeden dieser Orte schicken. Wir müssen mit jedem reden, der irgend etwas gesehen hat. Irgendwo muß sich ein Hinweis finden.«
»Gut überlegt«, sagte Aires. »Aber sehr viel nützlicher wäre es, dabeisein zu können, wenn wieder etwas Ungewöhnliches geschieht.«
»Sicher. Fragt sich nur, wie. Kannst du jetzt zufällig in die Zukunft blicken?«
»Gottlob nicht«, erwiderte Aires lächelnd. Sie wurde sofort wieder ernst. »Mir liegen Berichte von Reisenden vor, die in den Schlund vorgestoßen sind. Ich weiß nicht was, aber... irgend etwas geschieht dort. Die Tiere sind unruhig geworden. Manchmal ist der ganze Dschungel in Aufruhr, dann wieder herrscht für Tage unnatürliches Schweigen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Natürlich kann das alles eine ganz gewöhnliche Ursache haben. Niemand von uns weiß wirklich etwas über den Schlund. Trotzdem habe ich mich entschlossen, mich selbst davon zu überzeugen, was dort vor sich geht.«
Für Augenblicke trat Stille ein. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf Aires. Dann sagte Cord: »Hältst du das für eine gute Idee?«
»Nein«, gestand Aires lächelnd. »Leider aber trotzdem für die beste, die ich im Moment habe.«
Cord blieb sehr ernst. »Der Schlund ist gefährlich, Aires. Nur zwei von drei Reisenden, die sich hineinwagen, kehren zurück.«
»Vielen Dank für die Warnung«, sagte Aires spöttisch. »Ich wäre nie von selbst darauf gekommen, weißt du?«
»Ich glaube, Cord meint, daß wir es uns nicht leisten können, dich zu verlieren«, sagte Kara. »Du bist das Gehirn des Drachenhortes. Wenn dir etwas zustößt, ist es um uns schlecht bestellt.«
Aires nickte. »Ich werde auf mich aufpassen«, sagte sie. »Ich bin vielleicht alt, aber nicht lebensmüde.«
»Verbiete es ihr«, sagte Cord. »Das ist viel zu gefährlich. Du mußt es ihr verbieten, Kara!«
»Das könnte ich«, sagte Kara. Sie sah die Magierin durchdringend an, aber Aires' Lächeln blieb so rätselhaft wie bisher.
»Aber ich werde es nicht tun.«
»Und warum nicht?« fragte Storm. Auch er schien nicht sehr begeistert von der Vorstellung zu sein, daß sich Aires einer solchen Gefahr aussetzte.
»Weil sie recht hat«, antwortete Kara. Sie spürte es. Sie wußte einfach, daß es nur einen einzigen Ort gab, von dem die Angreifer kommen konnten: aus den unbekannten Ländern jenseits des Schlundes. »Und weil ich sie begleiten werde«, fügte sie hinzu.
22
Vor einem Augenblick hatte unter Markors Schwingen noch das zerklüftete Bergland der Küste gelegen. Einen gewaltigen Flügelschlag später breiteten sich Wolken unter ihnen aus; ein flockiges Meer aus Zuckerwatte, durch dessen Lücken es grün und braun schimmerte, so wie es über der zweiten Wolkendecke, die ebenso weit über ihnen lag wie die andere unter ihnen, türkis und blau funkelte. Sie glitten zwischen zwei Himmeln dahin.
Allein dieser Anblick konnte einen unvorbereiteten Menschen in den Wahnsinn treiben, dachte Kara. Ein einziger Schritt, um von der Welt unter den Wolken in die über den Wolken zu wechseln... verrückt.
Aber schließlich war die ganze Welt irgendwie verrückt - im buchstäblichen Sinne des Wortes. Der Schlund unter ihnen war nichts anderes als der Boden des gewaltigen Ozeanes, der einst vier Fünftel der Planetenoberfläche bedeckt hatte. Das Wasser war zusammen mit neunundneunzig Prozent der bewohnbaren Kontinentaloberflächen verschwunden - genauso wie das Volk, das für dieses Verschwinden verantwortlich war - aber das hieß nicht, daß der Schlund ohne Leben war. Ganz im Gegenteil - wo früher nichts als gewaltige Wassermassen gewesen waren, da tummelten sich nun die meisten Lebewesen dieses Planeten. Der Name Schlund stimmte in jeder Beziehung.
Wenig, was in die Welt jenseits dieser zweiten Wolkendecke eintauchte, kam je wieder heraus.
Markor bewegte sich elegant, um sich in einem weit geschwungenen Bogen an die Spitze der gewaltigen Zwölferformation zu setzen. Kara klammerte sich instinktiv fester an das polierte Sattelhorn, als eine mächtige Wellenbewegung durch den riesigen Drachenkörper lief. Sie blinzelte, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und setzte nach einem letzten, kurzen Zögern die Schutzbrille auf. Wie die meisten jungen Drachenkämpfer war auch Kara meist zu stolz, die durchsichtige Schutzbrille zu tragen, sondern ließ sich lieber vom eisigen Fahrtwind die Tränen in die Augen treiben. Aber sie spielte nun kein Spiel mehr. Zum ersten Mal befand sich Kara in einem echten Einsatz. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, auf den Feind zu treffen, gering war, so drangen sie doch in ein Land ein, das allein schon gefährlicher war als die meisten vorstellbaren Gegner.
Ihr Rufer meldete sich. Obwohl seit Jahren geübt, brauchte Kara doch einige Momente, bis sie die an- und abschwellenden Schmerzimpulse zu einer Nachricht ordnen konnte. Manchmal, dachte sie, während die direkt in ihr Nervensystem gespeisten Morsezeichen des Rufers ihr schon wieder Tränen in die Augen trieben, verstand sie Männer wie Karoll. Funkgespräche waren vielleicht umständlicher und nicht so sicher, aber sie taten nicht so weh.
Es war Aires. Ein paar Grad mehr nach links, Kara, signalisierte sie. Direkt auf den Drachenfels zu.
Aber das ist ein Umweg, morste Kara zurück.
Ich weiß. Aber es ist sicherer.
Kara ersparte sich eine Antwort darauf; einerseits, weil es sinnlos war, sich mit Aires zu streiten, andererseits, um den anderen zehn Drachenkämpfern unnötiges Unbehagen zu ersparen. Der größte Nachteil der Rufer bestand darin, daß man nicht gezielt mit einem einzigen Tier reden konnte. Jede Nachricht, die in das halbtelepathische Kommunikationssystem der winzigen Insekten eingespeist wurde, wurde von allen Rufern innerhalb ihrer Reichweite aufgenommen, was gezielte oder auch längere Anweisungen zu einer ebenso komplizierten wie auch schmerzhaften Angelegenheit machte. So beließ sie es dabei, Markors Kurs um einige Grade nach Westen zu korrigieren. Der Rest der Formation vollzog den Richtungswechsel getreulich nach. Gleichzeitig verloren sie weiter an Höhe.
Karas Herz begann hart und schnell zu schlagen, als der Drache in die Wolkendecke eindrang. Im allerersten Augenblick zerrissen Markors peitschende Schwingen das wattige Grau einfach, dann umgab sie für endlose Minuten nichts als feuchter, grauer Dunst, der sie so sehr einhüllte, daß selbst die Gestalten der anderen Drachen zu verschwommenen Schatten in unbestimmter Entfernung wurden. Dann hatten sie die Wolken durchquert, und unter ihnen lag Gäas Reich.
Eine wilde Erregung ergriff von Kara Besitz, als sie auf das endlose, wogende Meer aus Braun und Schwarz und allen nur vorstellbaren Grünschattierungen hinunterblickte. An einem klaren Tag konnte man den Dschungel selbst vom Hort aus sehen, wenn auch nur als verwaschenes Muster ineinanderlaufender Farben. Doch zum ersten Mal würde Kara landen, den Dschungel erforschen und vielleicht auf den unbekannten Feind stoßen.