»Ich werde es dir sagen, nachdem du es mir erzählt hast.«
Aires blickte sie einen Atemzug lang verblüfft an, aber dann lachte sie. »Du lernst wirklich schnell, mein Kompliment. Du bist schon beinahe so spitzfindig, wie Angella es war.« Sie machte eine kleine Pause. »Es gibt nicht viel, was ich dir über Gäa erzählen könnte, weil ich selbst nicht viel über sie weiß. Niemand weiß viel über sie. Und das, was wir wissen, sind nur Vermutungen, die richtig sein können, aber auch falsch. Interessiert es dich, was ich vermute?«
Kara nickte.
»Soviel wir wissen«, begann Aires, »bedeckte Gäa den Boden des gesamten Schlundes. Wenn das stimmt, dann ist sie das größte lebende Wesen, das es jemals auf dieser Welt gegeben hat. Ich weiß nicht, ob sie Pflanze oder Tier ist. Manche glauben, sie wäre eine Art riesiges, denkendes Pilzgeflecht, das diesen ganzen Planeten umspannt, aber ich persönlich glaube, daß sie etwas ganz anderes ist, eine eigene Lebensform, die nichts mit anderen zu tun hat - außer vielleicht, daß sie rücksichtslos alles absorbiert, worauf sie stößt.«
»Aber es heißt, von Gäa verschlungen zu werden, bedeute nicht den Tod, sondern das ewige Leben.«
»Ich weiß.« Aires seufzte. Ihr Gesicht verdunkelte sich. »Wenn man es als ewiges Leben betrachtet, von einem gigantischen Protoplasmaklumpen aufgesogen und zu einem Teil eines riesigen Überbewußtseins zu werden. Meine Vorstellungen vom Paradies sehen anders aus. Hast du von dieser neuen Torheit gehört, die in den östlichen Ländern um sich greift?« Kara verneinte. »Irgendeine verrückte Sekte«, berichtete Aires. »Sie glauben, daß Gott in Gäa einen Körper gefunden hat, und sehen ihr höchstes Glück darin, zu einem Teil Gäas zu werden.«
Kara riß erstaunt die Augen auf, und Aires nickte bekräftigend. »Sie haben irgendwie einen Weg in den Schlund gefunden, und nun pilgern sie einmal im Jahr wie die Lemminge hinunter, um sich Gäa zu opfern. Zumindest diejenigen, die nicht auf dem Weg durch den Dschungel von Raubtieren gefressen werden oder sich zu Tode stürzen.«
»Hat denn nie jemand versucht, mit ihr zu reden?« fragte Kara.
»Mit Gäa?« Aires zog verblüfft die Augenbrauen in die Höhe. »Manche behaupten, sie hätten es getan, aber ich glaube, daß sie entweder lügen oder einfach verrückt sind. Man kann mit einem solchen Geschöpf nicht reden. Es gibt keine gemeinsame Basis.«
»Das klingt ja fast, als hättest du Angst vor ihr?«
»Das habe ich«, gab Aires unumwunden zu.
»Aber warum? Sie ist unsere Verbündete! Sie hat Jandhis Reiterinnen und die Ameisenkönigin vernichtet, und sie erlaubt uns, in diesem Berg zu leben und sogar Städte im Schlund zu bauen.«
»Sie hat Tally und Angella benutzt, um die Königin zu vernichten«, verbesserte sie Aires. »Sie waren seit Urzeiten Feinde. Unser Krieg mit ihnen hat Gäa niemals interessiert, Kara. Sie hat unsere Feinde vernichtet, aber nur aus dem einen Grund, weil sie auch ihre Feinde waren. Und sie gestattet uns, an Orten zu leben, die für sie nicht nützlich oder nicht zu erreichen sind.«
Die Magierin runzelte die Stirn. »Was passiert, wenn sie es nur tut, um uns zu studieren? Was, wenn sie eines Tages lernt, den Schlund zu verlassen und auch unsere Welt beansprucht?«
Kara erschrak bei Aires' Worten. »Das... das ist eine entsetzliche Vorstellung«, sagte sie zögernd. »Du hast niemals darüber geredet.«
»Weil es nur Unruhe stiften würde«, entgegnete Aires. »Seit dem Krieg gegen Jandhi gilt Gäa als unsere Verbündete. Die große Urmutter Erde, in deren Schoß wir alle sicher und geborgen sind, nicht wahr? Vielleicht frißt sie uns eines Tages mit Haut und Haaren auf.«
»Das meinst du nicht ernst!« sagte Kara erschrocken.
Aires zögerte einen Moment. Sie verzog das Gesicht. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Nein«, sagte sie. »Eigentlich nicht. Ich glaube nicht, daß man Gäas Beweggründe mit menschlicher Logik nachvollziehen kann. Aber ich glaube auch nicht, daß sie unser Freund ist. Wir sind ihr bestenfalls gleichgültig.«
Sie hatten das Ende der langen Treppe erreicht, und Kara war plötzlich froh, als Aires ihr eines der kleinen, fensterlosen Zimmer zuwies und ihr riet, bis zum Abend noch einige Stunden zu schlafen.
23
Das Bett, das beinahe die gesamte Einrichtung der Kammer darstellte, war hart und unbequem, und die Luft war schlecht.
Trotzdem schlief Kara bereits nach wenigen Augenblicken ein.
Sie erwachte nach Stunden erquickt und ohne jede Erinnerung an einen Alptraum.
Auf dem Weg in den Versammlungsraum traf sie auf Tess, Silvy sowie die beiden Drachenreiter Zen und Maran. Die vier hatten auf sie gewartet; offensichtlich aber waren sie schon über das Wichtigste informiert worden. Was also wollten sie von ihr?
Kara beschlich ein ungutes Gefühl.
Maran kam ihr mit einem breiten Lächeln entgegen und schloß sie in die Arme. Er war ein junger Mann mit dunklem Haar, der eine Handbreit größer war als Kara. Auf seinen Wangen zeigte sich der erste zaghafte Bartwuchs, und er kultivierte sorgsam eine übertrieben galante, extrovertierte Art des Auftretens, die eigentlich gar nicht seinem Charakter entsprach. Wahrscheinlich wollte er Storm damit nachahmen, den er wie die meisten jungen Männer im Hort bewunderte.
»Kara!« begrüßte er sie. »Tess hat uns erzählt, daß du gekommen bist. Warum hast du Hrhon nicht mitgebracht!«
Kara löste sich mit sanfter Gewalt aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück. »Du weißt genau, daß sich Hrhon lieber Arme und Beine ausreißen lassen würde, ehe er auf den Rücken eines Drachen steigt«, sagte sie.
Maran lachte, aber sein Lachen klang gezwungen. Er hatte etwas auf dem Herzen.
»Was ist mit euch?« fragte Kara. »Los, raus mit der Sprache.«
»Was... meinst du?« fragte Maran zögernd.
»Ihr vier habt mir doch hier nicht aufgelauert, um mir guten Tag zu sagen. Ihr wollt irgend etwas von mir, nicht wahr? Also macht es nicht so spannend und rückt schon raus mit der Sprache.«
Marans Miene verdüsterte sich. »Zen und ich sind gerade zurückgekommen. Wir haben mit Aires gesprochen. Sie hat uns erzählt, was passiert ist, und sie...«
»Ja?«
»Sie hat uns befohlen, zum Hort zurückzukehren.«
Kara war für einen Moment überrascht, nicht einmal so sehr über Aires' Befehl, sondern eher über den Umstand, daß sie ihn erteilt hatte, ohne vorher mit ihr darüber zu reden.
Trotzdem zuckte sie nur mit den Schultern und fragte: »Und? Was soll ich nun tun?«
»Wir wollen nicht nach Hause fliegen, während ihr gegen den Feind zieht«, sagte Maran ernst. »Wir haben ein Recht...«
»... euch umbringen zu lassen?« fiel ihm Kara ins Wort.
»Wir sind Krieger, genau wie du und die anderen«, sagte Tess. »Ein paar von denen, die ihr mitgebracht habt, sind auch nicht älter als wir. Wieso schickt Aires uns zurück und bringt sie mit hierher?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Kara - was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie glaubte, die Antwort zumindest zu ahnen. »Aber es ist auch nicht meine Entscheidung. Ich werde mit Aires reden und sie fragen. Aber wenn sie euch befiehlt zurückzufliegen, so nehme ich an, daß sie ihre Gründe dafür hat.«
»Sie fragen?« sagte Maran. »Wer ist Angellas Nachfolgerin - du oder sie?« Der junge Drachenkämpfer wußte im gleichen Moment, als er die Worte aussprach, daß er einen Fehler begangen hatte.
Aber Kara fuhr nicht auf, sondern blickte Maran nur einen Moment lang betroffen an, ehe sie sich mit einem Ruck umwandte und weiterging, ohne noch ein einziges Wort zu sagen. Auch die anderen schwiegen, aber Kara konnte ihre Blicke wie die Berührung brennender Hände im Rücken fühlen.
Plötzlich war ihr zum Heulen zumute. Sie verspürte eine Mischung aus Schmerz, Wut und Enttäuschung, die ihre Hände zum Zittern brachte. Ihr besonderes Verhältnis zu Angella hatte es mit sich gebracht, daß sie niemals wirklich zu der Gemeinschaft der anderen gehört hatte. Dieses kurze Gespräch hatte ihr wieder einmal vor Augen geführt, wie tief die Kluft war, die zwischen ihr und den anderen klaffte.