Kara wußte im Grunde sehr wohl, warum Aires die vier jungen Kämpfer so schnell wie möglich zum Hort zurückschicken wollte. Es war der gleiche Grund, aus dem Angella ihnen erlaubt und Kara verboten hatte, hierherzukommen. Sie waren einfach nicht gut genug. Die regelmäßigen Expeditionen über die Grenze hinaus, die der Drachenfels bildete, waren vielleicht nicht überflüssig, aber im Grunde nicht viel mehr als eine Mutprobe gewesen, die kein großes Risiko beinhaltete.
Kara zwang sich zur Ruhe, als sie die große Versammlungshalle unter dem Gipfel des Berges erreichte. Der riesige, asymmetrisch geformte Raum war einst die Kommandozentrale der gefürchteten Drachentöchter gewesen, das elektronische Gehirn, von dem aus sie ihr Terrorregime aufrechterhalten hatte. Wände und Decke waren mit Bildschirmen, Computern und tausend anderen unverständlichen Geräten bedeckt, die allesamt abgeschaltet waren, aber noch immer funktionierten, wie Kara sehr wohl wußte. Die gesamte der Tür gegenüberliegende Wand wurde von einem einzigen, gewaltigen Bildschirm eingenommen, der ebenfalls blind und grau war. Wie jedes technische Gerät war er vor fünfundzwanzig Jahren das letztemal benutzt worden.
Aires warf ihr einen mißbilligenden Blick zu, denn mit Ausnahme der vier jungen Drachenreiter, die dicht hinter ihr den Raum betraten, war Kara die letzte. Alle anderen hatten bereits um den gewaltigen Tisch in der Mitte des Raumes Platz genommen. Kara schenkte der Magierin ein rasches, verzeihungheischendes Lächeln, steuerte den freien Platz am Kopfende der Tafel an und setzte sich. Sie wartete, bis auch Maran und die drei anderen Platz genommen hatten, dann gab sie Aires ein Zeichen zu beginnen.
Die Magierin erhob sich, räusperte sich umständlich und warf einen langen Blick in die Runde. Dann begann sie ohne weitere Umschweife zu erzählen, warum sie gekommen waren.
»Ihr seht also«, sagte sie schließlich, »daß unser Besuch kein gewöhnliches Unternehmen ist. Morgen in aller Frühe werden Kara, ich selbst und die Hälfte der Drachen zu der Siedlung zweihundert Meilen östlich von hier fliegen, um dort mit einigen Leuten zu sprechen. Darüber hinaus aber interessieren mich alle außergewöhnlichen Dinge, die hier in den letzten Wochen oder Monaten vorgefallen sind. Verhalten sich die Tiere irgendwie ungewöhnlich... hat sich irgend etwas im Dschungel verändert? Gab es ungewöhnliche Wetterverhältnisse... alles eben.«
»Verzeiht, Aires«, sagte Petar, einer der zehn Männer, die die ständige Besatzung des Drachenfelsens bildeten. »Aber wie können wir diese Fragen beantworten? Ich meine... da wir kaum wissen, was hier normal ist, wie sollten uns irgendwelche Veränderungen auffallen?«
Aires seufzte. »Ich bin mir des Problems durchaus bewußt, Petar«, sagte sie. »Dennoch bitte ich euch darüber nachzudenken. Der Mann, mit dem ich vor zwei Wochen sprach, berichtete zum Beispiel, daß die Zahl der Raubtiere in der Nähe der Siedlung seit Monaten zunimmt.«
»Vielleicht sind sie auf den Geschmack gekommen?« witzelte Zen.
Kara warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, und Zen verteidigte sich, allerdings in Aires' Richtung gewandt: »Wir reden über einen Feind, der wahrscheinlich von jenseits des Schlundes kommt und offenbar über die Technik der Alten Welt verfügt. Was sollte das Verhalten irgendwelcher Tiere damit zu tun haben?«
»Wir reden über einen Feind, über den wir so gut wie gar nichts wissen«, verbesserte Aires ihn sanft. »Und so lange man nichts über einen Feind weiß, tut man gut daran, ihm alles zuzutrauen.«
»Sehen Cord und Storm die Sache auch so?« fragte Maran herausfordernd. »Wenn ja, dann frage ich mich, warum sie beide nicht hier sind.«
»Storm ist zurückgeblieben, um den Drachenhort zu leiten, solange Kara und ich fort sind«, antwortete Aires.
»Und Cord jagt Libellen«, fügte Kara amüsiert hinzu.
Aires blickte sie strafend an. Einige der anderen lachten, die übrigen runzelten entweder die Stirn oder sahen einfach nur verwirrt aus. Nur Maran fuhr sichtlich zusammen und wiederholte: »Libellen?«
»Zwanzig Meter große Libellen«, bestätigte Kara lächelnd. »Warum fragst du? Hast du welche gesehen?«
»Ja«, sagte Maran.
Es wurde sehr still. Plötzlich starrten alle den jungen Drachenkämpfer an.
»Erzähle«, sagte Aires. Ihre Stimme klang sehr ernst.
Maran war anzusehen, daß es ihm nicht behagte, von allem so angestarrt zu werden. »Es... es war gestern nachmittag«, berichtete er. »Sie waren sicher keine zwanzig Meter groß, aber sie waren groß. Ich bin nicht einmal sicher, ob es wirklich Libellen waren. Zen hat sie auch gesehen.« Er warf dem anderen Drachenkämpfer einen flehenden Blick zu. Zen nickte.
Kara sah die beiden scharf an. Einen Moment lang überlegte sie, ob Maran diese Geschichte vielleicht nur erfand, um nicht zurückgeschickt zu werden, sie verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Maran war vielleicht ein Angeber, aber er war nicht dumm.
»Wie sahen sie aus?« fragte Aires. »Wie viele waren es?«
»Drei oder vier«, sagte Maran. »Sie waren sehr weit entfernt und... fast sofort wieder verschwunden. Wir haben auch nicht besonders auf sie geachtet. Wir hielten sie für Tiere. Es gibt alle möglichen Ungeheuer in dieser Gegend.«
»Und wo genau waren sie?«
»Nicht weit von der Siedlung entfernt«, antwortete Maran.
»Zen und ich haben noch überlegt, ob wir hinfliegen und die Leute warnen sollten.«
»Habt ihr es getan?«
Maran verneinte.
»Das ist schade«, sagte Aires. »Es wäre interessant zu erfahren gewesen, ob man sie dort auch gesehen hat.«
»Das können wir morgen nachholen«, sagte Kara. Sie blickte Maran an, überlegte einen Moment, dann deutete sie auf ihn und Zen. »Ihr beide solltet uns begleiten, um uns den genauen Ort zu zeigen, an dem ihr die Libellen gesehen habt.«
Aires' Blick machte deutlich, daß sie sehr wohl wußte, warum Kara diesen Vorschlag in Wahrheit unterbreitete. Aber sie wirkte eher amüsiert als verärgert. »Wie Ihr befehlt, Kara«, sagte sie spöttisch. »Obwohl...«
Die Tür wurde mit solcher Kraft aufgestoßen, daß sie mit einem lauten Knall gegen die Wand flog, und eine völlig atemlose Gestalt im matten Silberschwarz der Drachenkämpfer stolperte herein.
»Die Drachen«, stieß sie hervor. »Sie verlassen den Berg! Sie fliehen!«
»Was?« Aires fuhr herum. Einige der anderen sprangen erschrocken von ihren Stühlen.
Kara stürmte zur Tür und hastete an dem völlig fassungslosen Drachenkämpfer vorbei. Hinter ihr entstand ein Tumult, als auch einige andere ihr folgen wollten. Aires rief ihr in befehlendem Tonfall nach, zurückzukommen, aber sie konnte diesem Befehl natürlich nicht gehorchen. Die Drachen! Markor! Markor war in Gefahr!
Sie erreichte die Treppe und lief die ausgetretenen Stufen so schnell hinunter, daß sie mehrmals ausglitt und sich mit ausgestreckten Armen an der Wand abfangen mußte, um nicht zu stürzen.
Dann stürmte sie atemlos den langen Korridor entlang, und noch ehe sie an die Treppe gelangte, hörte sie das Brüllen eines Drachen, so laut und zornig und voller Angst, wie sie es noch nie zuvor vernommen hatte. Das Geräusch ließ sie ihre Schritte noch mehr beschleunigen. Sie rannte nicht mehr - sie flog die Treppe regelrecht nach unten.
Bis sie die drei letzten Stufen erreicht hatte. Dann prallte sie so entsetzt zurück, daß sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Kara wußte nicht, was es war, aber es sah entsetzlich aus.