Aires dachte einen Moment ernsthaft über diesen Vorschlag nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Zu gefährlich«, sagte sie knapp. »Die Plattform ist zu klein, als daß die Drachen dort sicher landen könnten. Außerdem sind sie wahrscheinlich längst fort.« Sie wiederholte ihr entschiedenes Kopfschütteln. »Nein. Wir müssen sehen, daß wir uns hier irgendwie halten.«
Kara hatte plötzlich das Gefühl, angestarrt zu werden. Sie wandte sich um und erblickte Maran und Zen, die zusammen mit Silvy und Tess nur ein paar Schritte entfernt standen. Sie waren bleich vor Schrecken. Für einen Moment fragte Kara sich, ob man es ihr ansah, daß sie einfach hilflos vor der Magierin stand und verzweifelt darauf wartete, daß ihr jemand sagte, was zu tun war. Erblickte sie Spott in Marans Augen? Im gleichen Moment verspürte sie Zorn auf sich selbst. Was für ein törichter Gedanke!
Nach und nach kehrten die anderen zurück. Aires wandte sich an den letzten Mann, der hereinkam. »Wie sieht es aus?«
»Es ist zwecklos«, antwortete der Krieger. »Das Zeug ist wie Wasser. Es dringt durch den kleinsten Spalt. An manchen Stellen sogar durch den Fels.«
»Dann müssen wir versuchen, uns hier irgendwie zu verbarrikadieren.« Die Magierin warf einen Blick in die Runde. »Sind alle hier?«
»Demec fehlt«, sagte Maran.
Der an der Tür postierte Krieger schüttelte müde den Kopf.
»Er kommt nicht mehr. Sie hat ihn erwischt.«
»Zwei.« Aires schloß für einen Moment die Augen. »Und es hat noch nicht einmal richtig angefangen.« Sie trat einen Schritt zurück, musterte die Tür und gab Kara dann ein Zeichen, beiseite zu treten. Es war eine sehr massive Tür aus dicken Eisenplatten. Doch Aires schien sie nicht massiv genug zu sein. Sie zog ihre Laserpistole aus dem Gürtel, stellte den Strahl auf die feinste Bündelung ein und verschweißte die Tür sorgfältig mit dem Rahmen.
Kara hustete, als ihr die beißenden Dämpfe in die Nase stiegen.
Heftig wedelte sie mit der Hand vor dem Gesicht herum, machte aber keine Anstalten, zurückzuweichen wie die anderen.
»Ich wußte gar nicht, daß du so eine Waffe hast«, sagte sie hustend.
Aires steckte den Laser wieder ein. »Manchmal sind sie ganz praktisch«, sage sie, während sie mißtrauisch ihr Werk beäugte.
»Ich hoffe, das hält sie für eine Weile auf. Verdammt!« Ihr Blick blieb an den verrosteten Gittern der Klimaanlage hängen.
»Was ist los?« fragte Kara alarmiert.
»Die Belüftung.« Aires deutete auf die unter der Decke befindlichen Lüftungsgitter. »Sie wird über die Luftschächte kommen. Versucht sie irgendwie zu verstopfen!«
Die Krieger bauten aus dem Tisch und einigen Stühlen eine Pyramide, über die sie hinaufkletterten und die Lüftungsschlitze so gut es ging verstopften. Kara bezweifelte, daß ihre Bemühungen Erfolg hatten.
Doch Gäa hatte schon einen anderen Weg in den Versammlungsraum gefunden.
Eines der jungen Mädchen schrie plötzlich auf und deutete auf eine Stelle unweit der Tür, und als Kara hinsah, fuhr auch sie erschrocken zusammen. Dünne weiße Fäden krochen aus einem der Computerpulte hervor. Sie quollen unter den Bildschirmen heraus, drangen aus undichten Schweißnähten und durch leere Fassungen. Plötzlich begriff Kara, was geschehen war: Gäa benutzte die Kabel- und Leitungsschächte, die die Computeranlage mit anderen Geräten im Berg verbanden, um in den hermetisch abgeschlossenen Raum einzudringen.
»Großer Gott«, flüsterte Kara. »Und jetzt?«
Aires überlegte nur eine Sekunde, dann deutete sie mit einer Kopfbewegung auf die Tür, hinter der die Treppe zur Plattform lag. »Versuchen wir es mit deiner Idee.«
»Und wenn die Drachen wirklich nicht mehr da sind?« fragte Kara.
»Dann leben wir wenigstens ein paar Augenblicke länger«, antwortete Aires, während sie bereits herumfuhr und auf die Treppe lief.
Aires wartete ungeduldig, bis auch der letzte an ihr vorübergelaufen war, dann verschweißte sie auch diese Tür sorgfältig mit ihrer Drachenwaffe. Vielleicht würde es helfen, dachte Kara. Es gab in dem kahlen Treppenschacht weder eine Klimaanlage noch irgendwelche Gerätschaften, über deren Versorgungsleitungen Gäa herankriechen konnte. Doch Gäa war kein Feind, gegen den man kämpfen oder vor dem man davonlaufen konnte. Sie konnten ebenso gut gleich aufgeben und ihr Ende erwarten.
Trotz dieser Gedanken stürmte Kara hinter Aires die Treppe hinauf. Eiskalter Wind und Dunkelheit schlugen ihnen entgegen, als sie die Plattform erreichten. Sie war noch kleiner, als Kara sie nach Aires' Worten erwartet hatte. Selbst die vierundzwanzig Drachenkrieger fanden kaum Platz auf dem gemauerten Geviert. Unmöglich, daß auch nur einer der Drachen hier niedergehen konnte. Unter ihnen, vielleicht hundert Meter tiefer, erstreckte sich ein ganzes Gewirr von Türmen und Innenhöfen, jeder einzelne davon groß genug, um mehreren Drachen Platz zur Landung zu bieten. Einen Moment lang erwog sie ernsthaft die Möglichkeit, an der Außenseite des Turmes hinabzuklettern; dann erhaschte sie eine weißliche Bewegung in der Festung, es war, als wäre das schwarze Lavagestein selbst unter ihnen zum Leben erwacht. Kara verschwendete keinen weiteren Gedanken an diesen Fluchtweg.
Statt dessen richtete sie ihren Blick in den Himmel. Da es bereits dämmerte, mußte sie eine Weile suchen, bis sie die Drachen fand; ein Schwarm nachtschwarzer, dreieckiger Schatten, die in einiger Entfernung um den Drachenfels kreisten. Einer von ihnen war Markor. Aber wie sollte sie ihn erreichen? Er war viel zu weit entfernt, als daß Rufen einen Sinn gehabt hätte.
Trotzdem schrie sie ein paarmal Markors Namen. Aires ließ sie eine Weile gewähren, dann legte sie beinahe sanft die Hand auf ihre Schulter und schüttelte den Kopf. »Laß es gut sein«, sagte sie. »Die Drachen sind viel zu weit weg. Außerdem würden sie sowieso nicht kommen. Sie fürchten Gäa hundertmal mehr als wir.«
Kara wollte antworten, aber in diesem Moment gewahrte sie eine Bewegung am Himmel. Einer der Schatten war aus dem Schwarm ausgebrochen, als ob...
Es war keine Einbildung! Es war... »Markor!« schrie Kara noch einmal. »Das ist Markor! Er kommt uns holen!«
Tatsächlich näherte sich der Schatten dem Turm so zielstrebig, daß es kein Zufall sein konnte. Kara vermochte nicht zu erkennen, ob es Markor war oder nicht; gegen den Nachthimmel betrachtet sah ein Drache aus wie der andere. Aber es mußte einfach Markor sein!
Der Drache kam rasend schnell näher und begann um den Turm zu kreisen, dicht genug, daß der heulende Sturmwind sie die Köpfe einziehen ließ. Brüllend strich der Drache über den Turm hinweg, kam in einer engen Schleife wieder zurück und wiederholte sein Manöver. Schließlich versuchte er sogar, mit wild schlagenden Flügeln in der Luft über der Turmplattform stillzustehen; was ihm aber mißlang. Er taumelte und wäre beinahe abgestürzt.
»Was tut er da?« schrie Aires über das Heulen des Sturmes hinweg.
»Er versucht zu landen!« schrie Kara zurück. »Versteh doch - er versucht uns zu retten!«
Aires warf einen gehetzten Blick zur Treppe zurück, aber noch war dort alles ruhig. »Vielleicht hast du recht«, murmelte die Magierin. »Wir müssen ihm helfen. Aber wie?«
Kara blickte verzweifelt zu Markor empor. Der Drache hatte seinen Sturz abgefangen und kam wieder näher. Die Rettung war so nahe! Nicht einmal einen Steinwurf, wenig mehr als ein kurzer Sprung, und...
Karas Blick blieb auf der steinernen Brüstung hängen. Es war kein Plan, nicht einmal eine Idee, sondern nur kompletter Wahnsinn. Aber was hatte sie schon zu verlieren? Wenn sie starb, starb sie ein paar Minuten bevor der Tod sie ohnehin ereilte.
Mit einem Satz sprang sie auf die Brustwehr hinauf, hob die Hände in die Höhe und fixierte den näherkommenden Drachen.
Markor flog so langsam, wie er nur konnte. Wenn es ihr gelang, mit einem Sprung seine ausgestreckten Krallen zu erreichen, hatte sie eine Chance. Aber wenn sie daneben griff oder einen Wimpernschlag zu früh oder zu spät absprang...