Sie spürte, daß sie den Absprung falsch berechnet hatte, noch während sie sich abstieß. Sie war zu spät, hatte zuviel Kraft in den Sprung gelegt, und Markor flog plötzlich in einem völlig anderen Winkel an, als sie berechnet hatte. Seine riesigen, weit geöffneten Klauen trafen sie mit der Wucht von Hammerschlägen und schleuderten sie im Sprung zu Boden. Daß sie sich beim Sturz nicht schwer verletzte, lag einzig an dem Umstand, daß sie zwischen die anderen fiel und drei oder vier von ihnen mit zu Boden riß.
In die Schreie der Krieger mischte sich das Knirschen von zerbrechendem Stein. Einen Augenblick später begann der ganze Turm unter ihnen zu zittern. Ein riesiger Schatten hockte wie ein überdimensionaler Rabe auf der Brustwehr und schlug mit den Flügeln, um das Gleichgewicht zu halten, während der meterdicke Fels unter seinem Gewicht zu zerbröckeln begann.
Kara plagte sich auf die Füße; sie war mit einem Satz an der Mauer und begann, an Markors Vorderlauf emporzuklettern.
Der Drache schlug immer hektischer mit den Schwingen, um sein Gleichgewicht zu halten, Kara riß und zerrte an seinen Gliedern, um irgendwie auf seinen Rücken zu gelangen. Hätte ihr nicht die Todesangst zusätzliche Kräfte verliehen, hätte sie es wahrscheinlich nicht geschafft.
Aber auch so war sie mit ihren Kräften völlig am Ende, als sie endlich den Sattel erreichte und sich am Zaumzeug festklammerte. Während unter ihr vier oder fünf weitere Gestalten am Leib des Drachen emporzuklettern begannen, bedankte sich Kara im stillen bei allen Göttern dafür, daß sie bisher keine Zeit gefunden hatte, Markor das Geschirr abzunehmen.
Der Drache kämpfte immer verzweifelter um sein Gleichgewicht; und schließlich verlor er diesen Kampf. Karas Herz machte einen erschrockenen Sprung, als Markor mit lautem Gebrüll nach hinten kippte. Der Drache taumelte, begann zu stürzen und brachte es irgendwie fertig, seinen Sturz nicht nur im letzten Moment abzufangen, sondern auch keinen seiner Passagiere abzuwerfen. Mit weit ausgebreiteten Schwingen schoß er vom Berg fort, mehr gleitend als fliegend. Auf diese Weise kam er zwar den Wipfeln des Dschungels gefährlich nahe, ermöglichte es dem halben Dutzend Krieger aber, sich vollends auf seinen Rücken emporzuziehen. Erst im allerletzten Moment, als Kara schon fürchtete, ihr Flug würde in einer splitternden Bruchlandung im Dach des Dschungels enden, bewegte Markor mit einem kraftvollen Schlag die Flügel und gewann wieder an Höhe. Dann zog er eine enge Schleife über dem Dschungel und nahm erneut Kurs auf den Drachenfels.
Kara fragte sich schaudernd, was sie tun sollte. Ganz davon abgesehen, daß Markor mit sechs Reitern auf dem Rücken sein Kunststück kaum würde wiederholen können, vermochte nicht einmal der riesige Drache das Gewicht von fast dreißig Menschen zu tragen.
Ein gewaltiger Schatten glitt über sie hinweg, und dann spielte sich vor Karas ungläubig aufgerissenen Augen ein Schauspiel ab, das beinahe noch unglaublicher war als Markors phantastische Rettungsaktion: ein zweiter Drache glitt heran, kreiste zweimal um den Turm und wiederholte das Manöver, das Markor ihm vorgemacht hatte! Auch er konnte sich nicht lange in der Schwebe halten; aber die Zeit reichte, drei weiteren Kriegern die Flucht vom Drachenfels zu ermöglichen. Und nach ihm folgte ein weiterer Drache. Dann noch einer. Kara zweifelte fast an ihrem Verstand, obwohl sie genau sah, was vorging.
Hatte sie sich wirklich jemals im Ernst gefragt, ob Drachen mehr als dressierte Tiere waren?
Nicht alle Drachen schafften es. Eines der Tiere flog zu schnell und im falschen Winkel an, so daß es mit voller Wucht gegen die Mauerbrüstung prallte und in einem Hagel aus Trümmern in die Tiefe stürzte, wobei es drei oder vier der Gestalten mit sich riß, die bereitgestanden hatten, sich an seine Läufe zu klammern.
Den letzten Drachen schließlich, auf den schon ein halbes Dutzend Männer und Frauen geklettert waren, holte sich Gäa.
Kara war zu weit entfernt, um Einzelheiten auszumachen. Sie hatte den Eindruck einer raschen, zupackenden Bewegung, als schnappe der ganze Turm wie ein riesenhaftes Maul nach dem Drachen und ihren Kameraden, und plötzlich verwandelte sich das halbe Dutzend Gestalten in eine Versammlung kreischender, zappelnder Marionetten, die am Ende unsichtbarer Fäden einen irrsinnigen Veitstanz aufführten. Im gleichen Augenblick begann auch der Drache zu toben. Wie von Sinnen schlug er mit den Flügeln, brüllte und bäumte sich auf, daß der gesamte Berg zu beben schien. Aber es gelang ihm nicht, sich loszureißen.
Markor schrie voller Zorn auf, warf sich mit einer ruckhaften Bewegung in der Luft herum und jagte immer schneller werdend auf den Turm zu. Hinter Kara erscholl ein Chor erschrockener Schreie, und Kara selbst, die wußte, was kommen würde, klammerte sich mit aller Gewalt an den Sattel und preßte die Augen zu, so fest sie nur konnte.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, geblendet zu werden, und stöhnte vor Schmerz, als Markor den sterbenden Drachen, die Krieger und Gäas wimmelnde Arme und Hände aus allernächster Nähe mit einer Lohe weißglühender, höllisch heißer Flammen überzog.
24
Sie waren noch dreiundzwanzig Reiter und siebzehn Drachen, und sie verloren ein weiteres Tier und drei ihrer Kameraden, als sie versuchten, vier oder fünf Meilen entfernt in den Wipfeln des Dschungels zu landen. Das so massiv erscheinende Blätterdach gab unter dem Gewicht des Tieres nach, und als der Drache mit einer erschrockenen Bewegung wieder in die Höhe zu gelangen versuchte, schnellte ein zerborstener Ast wie ein Speer in die Höhe und schlitzte seine linke Schwinge auf voller Länge auf. Kara schloß entsetzt die Augen, als das Tier samt seiner Reiter durch die Baumkronen brach und in der Tiefe verschwand.
Durch das Schicksal seines Bruders gewarnt, setzte Markor sehr viel vorsichtiger auf dem Blätterdach auf. Auch er sank ein Stück in das grüne Dickicht ein, aber nach einem kurzen Moment des Schreckens begriff Kara, daß es sein Gewicht halten würde. Müde und zitternd vor Erschöpfung ließ sie sich von Markors Rücken gleiten und sank auf weiches, leicht klebriges Moos. Sie kämpfte gegen den Impuls an, einfach die Augen zu schließen und einzuschlafen, doch plötzlich spürte sie das schmerzhafte Ziehen des Rufers in ihren Nacken- und Schultermuskeln.
Kara?
Sie fühlte sich viel zu müde, um zu antworten. Aber sie wußte, daß der Quälgeist nicht aufhören würde. Ja. Ich lebe noch.
Wie viele sind bei dir?
Kara zwang sich, den Kopf zu heben und die verschwommenen Schatten in ihrer Nähe zu zählen. Fünf. Nach einer Sekunde verbesserte sie sich. Nein. Sechs.
Gut, signalisierte Aires. Dann schick sie weg. Wir haben mehr Drachen als Reiter. Aber... Die anderen Tiere kommen zurück. Sie sind vor Gäa geflohen, nicht vor uns. Sieh selbst.
Kara war viel zu müde, um auch nur den Kopf zu heben.
Aber sie registrierte auch so die riesigen, dreieckigen Schatten, die sich ihnen aus der Richtung, in der der Drachenfels lag, näherten. Wahrscheinlich waren die Tiere ebenso verängstigt und hilflos wie ihre Reiter und suchten die Nähe der anderen Drachen.
Da alle die Botschaft des Rufers mitgehört hatten, brauchte Kara Aires' Befehl nicht zu wiederholen. Die Drachenkämpfer entfernten sich auf der Suche nach ihrem eigenen oder irgendeinem anderen Tier, auf dessen Rücken sie sich zurückziehen konnten.
Lange Zeit saß Kara einfach nur da und versuchte zu begreifen, was sie mitangesehen hatte. Es gelang ihr nicht. Wenn Gäa tatsächlich mit einem Male beschlossen hatte, zu ihrem Feind zu werden, dann war das... unvorstellbar; eine Gefahr, gegen die jeder denkbare andere Feind zu einem Nichts wurde.
Nach einer Weile sah sie auf. Ihr Blick begegnete dem Markors, und was sie in den riesigen, schwarzen Augen des Drachen las, ließ sie abermals schaudern. Mitgefühl stand in seinen Augen und eine Intelligenz, die weder menschlich noch animalisch zu nennen war.