»Auch für jedes, das ich rette?« gab Kara trotzig zurück.
Aires' Augen funkelten.
Aber sie sagte nichts mehr, sondern wandte sich wortlos um und ging zu ihrem Drachen zurück.
25
Der kurze, aber heftige Streit mit der Magierin beschäftigte Kara die ganze Nacht. Sie war zornig und verunsichert, denn sie war keineswegs davon überzeugt, daß sie wirklich richtig gehandelt hatte. Nachdem ihre erste Erregung abgeklungen war, hatte sie sich sehr schnell eingestanden, daß Aires sie vermutlich mit wenigen Worten hätte überreden können, in den Hort zurückzukehren. Für gewöhnlich wäre sie auch so vorgegangen, aber statt dessen hatte sie es auf diese sinnlose Machtprobe ankommen lassen.
Es mußte lange nach Mitternacht sein, als sie sich der Stadt näherten. Die knapp zweihundert Seelen zählende Ansiedlung, die hier inmitten des Schlundes entstanden war, lag nicht weniger als zweihundert Meter über dem Boden, erbaut auf den Ästen der gewaltigen Bäume, die aus Gäas alles verschlingendem Sumpf hervorwuchsen.
In die Baumwipfel war eine gewaltige Schneise geschlagen worden, ein riesiger Krater, dessen Wände aus lebendem Grün bestanden, so daß das Sonnenlicht hereinfallen konnte, zugleich aber die größeren Raubtiere daran gehindert wurden, sich der Stadt unentdeckt zu nähern. Der Boden dieses künstlichen Kraters gestaltete sich als ein Gewirr unterschiedlich hoher und verschachtelter Ebenen. Hier und da waren die Lücken zwischen den einzelnen Ästen durch stabile Brücken- und Holzkonstruktionen geschlossen worden, aber überall, wo es nur möglich war, hatten die Erbauer der Stadt die von der Natur vorgegebenen Bedingungen genutzt. Die meisten Häuser waren gar keine Häuser, sondern gewaltige Äste, die nur ausgehöhlt worden waren.
Eine der größten Gefahren des Schlund-Waldes war die Nacht. Diese gewaltige, aus vielen unterschiedlichen Ebenen bestehende Welt war fast zur Gänze in immerwährende Dunkelheit getaucht, denn die Wipfelregion des Dschungels war so dicht, daß das Sonnenlicht selbst an einem wolkenlosen Tag nur wenige Dutzend Meter tief hineindrang, ehe es zu einem grüngrauen Schimmer verblaßte und schließlich ganz erlosch.
Daher hatten sich die meisten Geschöpfe dem Leben in ewigem Zwielicht angepaßt und fürchteten den Tag, denn Licht bedeutete für die meisten Bewohner dieser Welt nicht Leben, sondern Tod, und also war die wirksamste Verteidigung, die die Stadt besaß, Licht.
Aber unter ihnen herrschte fast vollkommene Finsternis.
Kara ließ drei, vier weitere Kreise über der Waldstadt ziehen, ehe sie ganz langsam tiefer ging. Ihre Unruhe wuchs mit jedem Augenblick. Der gleißende Ring aus Leuchtbakterien, der rings um die Stadt herum die Nacht zum Tage machte, war ebenso verschwunden wie die Unzahl von Leuchtstäben, die die Straßen und Brücken säumen sollten. Sie sah nur ein einziges, blaßgelbes Licht, das in einem der kleineren Häuser brannte. Der Rest der Stadt lag wie tot unter ihr.
Wie tot?
Nein.
Sie war tot, dachte Kara erschüttert. Dort unten lebte nichts mehr, doch nicht nur die Stadt, auch der Dschungel ringsum war vollkommen still.
Maran! Tess! befahl sie. Ihr folgt mir. Die anderen halten Abstand. Kommt dem Dschungel nicht zu nahe!
Zwei der geflügelten Schatten brachen aus der Formation aus und näherten sich ihr. Nach einigem Zögern fügte Kara hinzu: Aires? Würdest du uns begleiten?
Sie erhielt keine Antwort, aber einen Moment später tauchte ein dritter Drache in den Krater hinab und gesellte sich zu den beiden Tieren, die Markor folgten.
Unendlich behutsam glitt Kara tiefer. Das Gefühl, sich in einem gewaltigen Grab zu befinden, wurde immer bedrängender, je näher sie der Stadt kamen. Kara war plötzlich sehr sicher, daß dort unten niemand mehr lebte. Aber sie spürte auch, daß es nicht Gäa war, die diese Stadt ausgelöscht hatte.
Kara ließ Markor fünfmal über die große freie Fläche im Zentrum der Stadt hinweggleiten, die eigens als Landeplatz für die geflügelten Boten des Hortes erbaut worden war, ehe sie endlich niederging. Ihr Blick suchte sehr aufmerksam den Boden ab, bevor sie vom Rücken des Drachen herunterglitt.
Markor bewegte sich mit einem ungeschickt anmutenden Schritt zur Seite, um Platz für die drei anderen Tiere zu machen, und Kara sah sich mit klopfendem Herzen um.
Alles war still. Selbst der Wind schien sich gelegt zu haben.
Die Gebäude, die schon aus der Luft einen sehr verwirrenden Eindruck gemacht hatten, weigerten sich hier am Grund vollends, sich zu irgendeiner Ordnung zusammenzufinden. Die Finsternis schnürte Kara beinahe die Kehle zu. Maran trat neben sie und dann auch Tess und als letzte Aires. Die Magierin wich Karas Blick aus, aber sie tat es wie zufällig und ohne daß die beiden anderen etwas von ihren wahren Beweggründen bemerken konnten.
Schweigend sahen sie sich um. Dunkelheit und Stille waren so bedrückend, daß sie alle vier sich sehr behutsam und so leise bewegten, als fürchteten sie, durch ein zu lautes Geräusch irgendeine Bedrohung aufzuwecken, die irgendwo unmittelbar in den Schatten dieser Totenstadt lauerte.
Den ersten Beweis, daß etwas nicht stimmte, fanden sie nach wenigen Schritten. Wie überall gab es auch am Rande dieses Platzes eine Unzahl von Leuchtstäben, die für gewöhnlich wie ein in hellem Blau leuchtender Zaun die Nacht erleuchteten.
Doch sie waren erloschen und dienten als ein nutzloses Hindernis in der Dunkelheit. Kara näherte sich diesem Zaun, ging vorsichtig in die Hocke und streckte die Hand aus.
»Faß sie nicht an!«
Kara zog erschrocken den Arm wieder zurück und blickte Aires an.
»Faßt überhaupt nichts an«, sagte die Magierin ernst. »Berührt so wenig wie möglich, solange wir nicht wissen, was hier passiert ist.« Sie ließ sich neben Kara auf die Knie sinken - und tat genau das, was sie Kara verboten hatte: Sie löste einen der Stäbe behutsam aus seiner Verankerung und drehte ihn in den Händen. Erst dann sah Kara, daß sie dünne, fleischfarbene Handschuhe trug, die fast bis zu den Ellbogen hinaufreichten.
Aires untersuchte den Stab sorgfältig, dann zog sie einen schmalen Dolch aus dem Gürtel und stieß ihn in das Holz. Mit einem kräftigen Ruck spaltete sie den Stab und wischte die Spitze ihres Messers sorgsam am Boden ab, ehe sie es wieder einsteckte; zuletzt nahm sie die beiden Hälften des Leuchtstabes in beide Hände.
Kara und die beiden anderen konnten nicht viel erkennen: das Innere des Stabes bestand aus mürbem, von zahllosen Rissen durchzogenem Holz; nichts Ungewöhnliches für Leuchtstäbe, die von den in ihnen wohnenden Bakterien aufgefressen wurden, um die nötige Energie für die Erzeugung des blauen Lichts zu gewinnen. Aber wo die leuchtenden Schimmelflecken sein sollten, gewahrte Kara nichts als nur eine schmierige, graue Masse. Ein schwacher, aber sehr unangenehmer Geruch drang in die Nase.
»Tot«, murmelte Aires. »Sie sind tot. Etwas... hat sie umgebracht.«
Sie sah zu Maran auf. »Ihr wart gestern erst hier?«
»Nicht direkt«, räumte Maran ein. »Wir waren vielleicht zwanzig Meilen entfernt. Die Stäbe haben aber noch geleuchtet.«
»Bist du sicher? Ihr wart tagsüber hier?«
»Man sieht sie auch bei Tage«, antwortete Tess an Marans Stelle. »Nachts leuchten sie an die hundert Meilen weit. Ich habe mich schon die ganze Zeit über gewundert, wo das Licht geblieben ist.«
Aires seufzte tief und legte den zerbrochenen Stab aus der Hand. »Das heißt, sie sind innerhalb eines einzigen Tages gestorben«, murmelte sie. »Alle.«