»Ihr habt sie verjagt.« Es war der Junge, den sie versehentlich niedergeschlagen hatte. Sein Gesicht war angeschwollen, und als Kara auf ihn zutrat und die Hand ausstreckte, zuckte er unwillkürlich zurück. Sie konnte es ihm nicht verübeln.
»Ja«, sagte sie.
»Aber sie werden wiederkommen.«
»Vielleicht«, gestand Kara. »Aber ihr brauchte keine Angst zu haben. Selbst wenn sie zurückkommen, werden wir und ihr nicht mehr hier sein. Wir bringen euch weg, sobald sich unsere Drachen ein wenig erholt haben.«
Sie hörte, wie Aires hinter ihr das Haus betrat, dann sagte die Magierin: »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden.«
»Und warum?«
»Sie waren gestern abend hier, kurz vor Sonnenuntergang«, sagte Aires, ohne ihre Frage direkt zu beantworten. »Ich kann mir vorstellen, daß sie die ganze Zeit über irgendwo ihre Kreise über den Wald gezogen haben.«
»Du meinst, es gibt irgendwo eine Basis.«
Aires nickte. »Wahrscheinlich nicht einmal sehr weit entfernt. Wenn wir Pech haben, sind sie in einer Stunde wieder hier.«
»Die Drachen sind erschöpft«, sagte Kara. »Sie schaffen den Weg zurück zum Hort nicht, wenn wir ihnen keine Pause gönnen.«
»Es reicht, wenn wir uns hundert Meilen weit zurückziehen. Oder auch nur fünfzig. Ich bin sicher, wir finden einen Platz, an dem wir in Ruhe das Ende der Nacht abwarten können.«
Kara deutete ein Achselzucken an. »Meinetwegen.«
Das war nicht das, was Aires hatte hören wollen. Trotzdem sah sie Kara nur einen Moment lang vorwurfsvoll an, ehe sie sich zu einem Lächeln zwang und sich wieder an die Kinder wandte. »Wie ist es?« fragte sie. »Hättet ihr Lust, auf einem richtigen Drachen zu reiten?«
Kara hörte nicht weiter zu, sondern ging zur Tür zurück, ließ sich müde gegen den Rahmen sinken und blickte in die Nacht hinaus. Dann riß sie plötzlich ungläubig die Augen auf und blickte die vier Drachen an, die sich rasch aus der Mitte der Stadt erhoben und sich nach Norden wandten.
»Was...«
Wer ist das? Antwortet. Kommt sofort zurück! Das ist ein Befehl!
Aires war mit einem Sprung neben ihr an der Tür. Auch auf ihrem Gesicht erschien ein ungläubiger Ausdruck, aber er schlug unvermittelt in Zorn um. »Tess!« murmelte sie. »Ich wette, das sind Tess, Silvy und diese beiden anderen Narren!«
Kommt auf der Stelle zurück! Oder ich sorge dafür, daß ihr nie wieder auf einem Drachen reitet!
»Spar dir die Mühe«, sagte Kara laut. »Ich glaube, es ist ihnen ohnehin gleich. Kümmere dich darum, daß die Kinder in Sicherheit gebracht werden!«
Aires' Antwort darauf hörte sie nicht mehr, denn noch ehe die Magierin überhaupt begriff, was Karas Worte zu bedeuten hatten, war sie schon auf halbem Weg zur Mitte der Stadt. Und einen Augenblick später saß sie auf Markors Rücken und jagte hinter den vier anderen Drachen her nach Norden.
26
Sie brauchte eine knappe Viertelstunde, um Tess und die drei anderen einzuholen, denn obwohl Markor der größte und stärkste Drache des Schwarmes war, war er verletzt und ziemlich erschöpft. Außerdem hatte Kara es nicht besonders eilig, sie einzuholen. Sie war einerseits zornig, weil die vier sich so offen über ihren Befehl hinweggesetzt hatten, aber andererseits war sie froh, über den Vorwand, selbst nach Norden fliegen zu können statt zurück zum Hort. Ihr Befehl, den Angriff abzubrechen, war von der Vernunft diktiert gewesen, nicht von ihrem Gefühl.
So enthielt sie sich auch jeden Kommentars, als Markor schließlich zu den anderen aufschloß. Sie glitten dicht über den Baumwipfeln dahin, um den dunklen Hintergrund des Waldes als Deckung auszunutzen, und da die Drachen sehr langsam flogen, bewegten sich ihre Schwingen nahezu lautlos.
Tess hob den Arm und winkte ihr zu, aber Kara widerstand dem Impuls, zurückzuwinken. Wie die Dinge auch immer aussahen - die vier hatten gegen einen direkten Befehl verstoßen, und das war ein schweres Vergehen, über das sie später reden würden.
Sie flogen eine gute Stunde nach Norden, ohne die beiden Libellenmaschinen zu Gesicht zu bekommen. Kara glaubte mittlerweile nicht mehr, daß sie sie wirklich einholen konnten.
Die Drachen waren müde, während die Libellen keine Erschöpfung kannten. Sie waren Maschinen, die entweder funktionierten oder nicht. Außerdem wußte Kara ja noch nicht einmal, ob sie sich überhaupt auf dem richtigen Weg befanden. Vielleicht waren die Maschinen nur ein kurzes Stück nach Norden geflogen und dann auf einen anderen Kurs eingeschwenkt. Schließlich gab Kara das Zeichen, nach einem Landeplatz Ausschau zu halten, und dieses Mal gehorchten die vier Drachenreiter. Vorsichtig suchten sie einen halbwegs sicheren Platz und gingen nieder. Alle bis auf Maran stiegen aus den Sätteln. Kara war ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich mit Marans Aufsässigkeit im Grunde abgefunden, aber daß er auch noch feige war, hätte sie nicht gedacht.
Tess, Silvy und Zen balancierten über den unsicheren Boden heran. Silvy wich ihrem Blick aus und wirkte schlichtweg verängstigt. Kara war niemals so deutlich wie jetzt aufgefallen, daß sie nur so etwas wie Tess' Anhängsel war. Zen versuchte so gelassen und ruhig auszusehen, als wäre gar nichts Außergewöhnliches passiert, während Tess Karas Blick trotzig erwiderte und schon wieder kampflustig die Lippen geschürzt hatte. Kara sah sie schweigend an, wartete und überließ es ganz bewußt ihr, das Gespräch zu eröffnen.
»Also!« sagte Tess nach einer Weile.
»Also - was?«
Zornig ballte Tess die Fäuste, daß es fast aussah, als wolle sie auf Kara losgehen. Aber die herausfordernde Haltung sollte lediglich ihre Unsicherheit überspielen. »Nun fang schon an, damit wir es hinter uns haben. Du bist doch sicher gekommen, um uns Vorhaltungen zu machen.«
»Wenn du wirklich glaubst, ich fliege euch eine Stunde lang nach, um euch Vorhaltungen zu machen, dann tust du mir leid«, antwortete Kara. »Nicht, daß das nicht passieren würde. Wir werden uns über eure Auffassung des Wortes Gehorsam unterhalten, aber nicht jetzt. Das hat Zeit, bis wir zurück sind.«
»Ich weiß«, murmelte Tess. »Wir haben Aires gehört.«
»So schlimm wird es schon nicht werden«, sagte Kara seufzend. »Ich werde sehen, was ich für euch tun kann.« Sie wechselte mit einer Handbewegung das Thema. »Die Drachen brauchen dringend eine Pause. Wir werden eine Stunde rasten und dann weiterfliegen.«
Ach ja, und Maran, fügte sie lautlos hinzu, wenn es dir auf dem Rücken deines Tieres schon so ausnehmend gut gefällt, dann kannst du gleich dableiben und die erste Wache übernehmen, während wir versuchen, ein wenig zu schlafen!
Maran fügte sich ihrem Befehl widerspruchslos, und Kara kuschelte sich an Markor, kaum daß Tess und die beiden anderen gegangen waren, und fand zu ihrer eigenen Überraschung sofort Schlaf. Aber entweder war Maran ebenfalls eingeschlummert, oder sie hatte seinen Weckruf nicht gehört; als sie erwachte, stand die Sonne schon zwei Fingerbreit am Horizont.
Kara lief ein wenig auf und ab, um ihre Muskeln wieder geschmeidig zu machen, und betrachtete währenddessen besorgt den Drachen. Seine Verletzungen waren schwerer, als sie befürchtet hatte. Das Loch in seiner Schwinge war harmlos, aber die Wunde an seinem Hals sah schlimm aus, sie war gute drei Meter lang und so tief, daß das rohe Fleisch hervorbrach.
Der Anblick erschütterte Kara. Die Panzerplatten eines Drachen waren härter als Stahl; nicht einmal Aires' Laserwaffe vermochte ihnen ernsthaften Schaden zuzufügen. Die Waffen der Fremden mußten ihren grenzenlos überlegen sein. Kara fragte sich ernsthaft, ob irgend etwas von dem, was sie tun konnten, überhaupt noch einen Sinn hatte.