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Sie verscheuchte den Gedanken. Sie würden einfach weitermachen und sehen, was geschah.

Tess, Maran, Zen - seid ihr wach?

Sie bekam keine Antwort; wahrscheinlich schliefen die drei noch. Kara war eher amüsiert als verärgert. Sie alle hatten während der letzten vierundzwanzig Stunden praktisch keine Minute Ruhe gefunden.

Wacht auf!

Nichts.

Sie hob die Hand über die Augen und blinzelte gegen das rote Licht der aufgehenden Sonne. Die vier Drachen hockten ein Stück weit entfernt wie schlafende Riesenkrähen auf den Ästen.

Von ihren Reitern war keine Spur zu entdecken. In das Gefühl der Beunruhigung, das Kara empfand, mischte sich ein deutliches Empfinden von Gefahr. Hinter ihr hob Markor träge den Kopf und blinzelte, als hätte er ihre Beunruhigung gefühlt.

Sie ging weiter, blieb wieder stehen, machte wieder einige Schritte und stockte abermals. Sie erkannte jetzt Tess, die mit an den Leib gezogenen Knien an ihrem Drachen lag und schlief.

Kara rief abermals ihren Namen, Tess bewegte sich zwar leicht, reagierte aber ansonsten nicht. Hinter ihr ließ Markor ein drohendes Grollen hören. Aber es hätte seiner Warnung nicht einmal mehr bedurft, um Kara erneut innehalten zu lassen.

Vor ihr... war etwas.

Sie konnte nicht genau erkennen, was es war; eine Veränderung in den Blättern vor ihr, in den Geräuschen und vor allem dem Gefühl des Waldes. Sie ließ sich in die Hocke sinken und betrachtete das Blattwerk vor sich. Etwas mit den Blättern stimmte nicht, aber sie konnte nicht sagen, was es genau war.

Sehr viel vorsichtiger ging sie weiter. Der Boden unter ihren Füßen federte, und manchmal klafften große Löcher in der grünen Decke. Während sie weiterlief, wurde ihr bewußt, wie müde sie immer noch war. Die wenigen Stunden Schlaf hatten längst nicht ausgereicht, sie wieder völlig zu Kräften kommen zu lassen.

Ihre Glieder fühlten sich wie Blei an, und es fiel ihr immer schwerer, sich darauf zu konzentrieren, wohin sie ihre Füße setzte. Aber es war eine angenehme Müdigkeit, so wohltuend, daß es ihr schwerfiel, ihrer warmen Verlockung zu widerstehen.

Beinahe wäre sie in eines der klaffenden Löcher im Blätterdach gestürzt. Sie bemerkte im allerletzten Moment, daß dort, wohin sie ihren Fuß setzen wollte, nichts mehr war, und prallte zurück.

Der Schrecken jagte eine zusätzliche Dosis Adrenalin in ihren Blutkreislauf. Ihr Herz begann zu jagen, und für einen Moment war sie so wach und klar, als hätte sie eine Woche geschlafen.

Was geschah mit ihr? Diese plötzliche Müdigkeit war nicht normal, und sie - kam zurück. Kara konnte regelrecht spüren, wie sich eine Woge angenehmer Mattigkeit in ihrem Körper ausbreitete. Ihr Denken begann unscharf zu werden und zerfaserte... Sie stolperte und fing den Sturz im letzten Moment instinktiv ab, aber sie spürte es kaum mehr. Langsam hob sie die Hand, versuchte, sich die Müdigkeit aus den Augen zu wischen, aber selbst dafür fehlte ihr die Kraft. Ihre Hände fielen schwer wie Blei hinunter, glitten über ihre Wangen und berührten den winzigen chitingepanzerten Körper des Rufers, der direkt an ihr Nervensystem angeschlossen war. Das Insekt bewegte sich unruhig, schien zu pulsieren, als -

Kara griff mit einer letzten Willensanstrengung zu und riß das Tier aus ihrem Fleisch.

Ein entsetzlicher Schmerz zuckte wie ein Stromschlag durch ihren Körper. Sie schrie auf, fiel auf die Knie und fühlte, wie warmes Blut an ihrem Hals herablief. Der Schmerz war so schlimm, daß er ihr die Tränen in die Augen trieb und sie stöhnend die Zähne zusammenbiß. Aber im gleichen Maß, in dem er verebbte, kehrte auch ihr klares Denken zurück. Es war, als würde ein Schleier von ihren Augen gezogen, der ihren Blick getrübt hatte. Plötzlich sah sie die Abermilliarden haardünner, weißer Fäden, die die Blätter ringsum bedeckten.

Sie, die Drachen und die vier Reiter.

Kara rannte mit einem Schrei los. Ihr Schrecken steigerte sich zu purem Entsetzen, als sie das dünne, glitzernde Netz erblickte, das Tess von Kopf bis Fuß einhüllte, noch nicht so dicht wie ein Kokon, aber dicht genug, daß ihr Gesicht kaum noch zu erkennen war. Hastig kniete sie neben der jungen Kriegerin nieder, streckte die Hände aus und zerriß das Gewebe, das ihr Gesicht bedeckte. Die Berührung schmerzte, als hätte sie eine Brennessel angefaßt. Tess stöhnte, wachte aber nicht auf.

Kara zerrte mit der linken Hand weiter an dem Netz, das Tess' Körper einhüllte, während sie mit der anderen heftig an ihrer Schulter zu rütteln begann und ihren Namen schrie. Tess' Kopf rollte haltlos von einer Seite auf die andere, und sie stöhnte, wachte aber noch immer nicht auf. Karas Blick suchte den Rufer. Sie erschrak. Das Tier war heftig angeschwollen und pulsierte wie ein kleines, wie rasend schlagendes Herz. Entschlossen griff sie zu, nahm das Tier zwischen Daumen und Zeigefinger und riß es heraus. Tess zuckte zusammen und öffnete die Augen. Einen Moment lang blickte sie Kara nur verstört an, dann sah sie an sich herab, begriff, was mit ihr geschah, und bäumte sich so heftig auf, daß Kara sie mit aller Kraft festhalten mußte.

»Beruhige dich«, sagte Kara beschwörend. »Es ist vorbei! Es ist alles in Ordnung!«

»Was...«

»Jetzt nicht«, unterbrach sie Kara. »Wir müssen den anderen helfen. Es sind die Rufer. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie haben sie euch betäubt. Schnell!«

So schnell sie konnten, eilten sie zu Silvy, Maran und Zen, die sich in demselben erschreckenden Zustand befanden wie Tess zuvor. Doch sie erwachten ebenso rasch, nachdem sie die Rufer entfernt hatten. Das klebrige Gewebe von ihren Körpern herunterzubekommen, erwies sich als nicht schwierige, aber langwierige und schmerzhafte Prozedur. Kara hielt einen der dünnen Fäden an spitzen Fingern vor das Gesicht und betrachtete ihn eingehender. Er war nur scheinbar glatt. Sah man genauer hin, erkannte man Hunderte kleiner Widerhaken, mit denen sie sich in der Haut ihrer Opfer festkrallten.

»Was, um Gottes willen, ist das?« murmelte Maran verstört, während er sich mit der Hand über den Hals rieb und stirnrunzelnd das Blut betrachtete, das an seinen Fingerspitzen klebte.

»Gäa?«

Kara schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich irgendein Bewohner dieser reizenden Gegend. Seht ihr?« Sie deutete nach links. Nicht weit entfernt entdeckte sie eine Anzahl großer, formloser Kokons, die im Blätterdickicht versunken waren. Einige waren kaum so groß wie Bälle, andere geradezu riesig. »Es schließt seine Beute ein und löst sie dann wahrscheinlich auf«, murmelte sie. »Wie eine fleischfressende Pflanze.«

Tess schauderte. »Es hätte uns bei lebendigem Leibe verdaut, wenn du uns nicht gerettet hättest.«

»Aber wieso die Rufer?« fragte Zen.

»Ein Zufall«, vermutete Kara. »Wahrscheinlich haben sie die beruhigenden Impulse dieses... Dinges so weit verstärkt, daß ihr keine Chance hattet. Sie sind direkt an unser Nervensystem angeschlossen. Man spürt es trotzdem noch.«

Tess und Maran sahen sie verständnislos an, und Kara machte eine weit ausholende Geste. »Euch fällt wirklich nichts auf?«

»Nein«, sagte Tess.

»Eben«, antwortete Kara. »Ich finde es schon seltsam, daß ich nicht einmal Angst habe - nachdem wir alle um ein Haar ums Leben gekommen wären.«

»Fast alle«, sagte Zen betont.

Kara zuckte mit den Schultern. »Ich hatte eben das Glück, nicht unmittelbar neben ihrem Nest zu landen.« Sie deutete auf die Drachen. »Kümmert euch um sie. Und dann laßt uns sehen, daß wir weiterkommen.«

Wie sich herausstellte, waren die Drachen nicht der einschläfernden Verlockung des unheimlichen Pflanzenwesens erlegen.

Das unheimliche Gewebe hatte während der Nacht auch sie einzuspinnen versucht, es hatte aber ihren stahlharten Panzerplatten nicht den mindesten Schaden zufügen können. Vielleicht, dachte Kara in einem Anflug von Galgenhumor, hatten sie mit der Wahl dieses Platzes sogar Glück gehabt. Gott allein mochte wissen, welchen Monstern sie sonst in die Hände gefallen wären.