Dann saßen sie erschöpft neben dem Wrack der Libelle und mußten erst einmal wieder zu Kräften kommen. Kara blinzelte müde zu der gewaltigen Flugmaschine auf. Sie mußte in die Sonne blicken, weshalb sie die Libelle nur als schwarzen Schattenriß erkannte, aber der Anblick war auch so unheimlich genug. Aus der Nähe betrachtet kam ihr die Maschine viel größer vor als in der vergangenen Nacht. Es war kein Zufall, daß sowohl Maran und Zen als auch die Kinder von Libellen gesprochen hatten. Es war eine Libelle. Der schwarze Umriß vor ihr glich so sehr dem eines ins Riesenhafte vergrößerten Insekts, daß Kara für einen Moment fast damit rechnete, es würde seine Flügel entfalten und davonfliegen. Statt dieser Flügel befanden sich über dem runden Kopf drei lange Blätter aus einem recht elastischen Metall. Einer davon war abgebrochen.
Als Kara schließlich aufstand und näher an das Wrack herantrat, wich die Ähnlichkeit mit einer Libelle ein wenig. Wie sie schon gestern abend erkannt hatte, bestand der eigentliche Körper der Libelle nur aus einer offenen Gitterkonstruktion, vor der sich eine Glaskugel befand. In der gläsernen Kapsel waren zwei sonderbar geformte Sessel und eine verwirrende Anordnung fremdartiger Apparate zu sehen, die offenbar dazu dienten, das Gefährt zu steuern.
Allerdings würde diese Libelle nirgendwo mehr hinfliegen, dachte Kara. Sie konnte sich jetzt ungefähr vorstellen, was passiert war. Dem Winkel nach zu schließen, in dem sich das Gefährt in der Astgabel verkeilt hatte, mußte der Pilot es in einem flachen Kurs nach unten gesteuert haben. Vielleicht hatte er versucht, in dem Wald zu landen. Sie hatte am Abend zuvor beobachtet, daß diese bizarren Maschinen durchaus in der Lage waren, sehr langsam zu fliegen; ja, für eine kurze Zeit sogar in der Luft zu stehen.
»Wer immer dieses Ding geflogen hat, war ein richtiger Künstler«, sagte Tess spöttisch. »Er hat es hübsch an den Baum genagelt.«
Kara nickte. »Um ein Haar hättest du das gleiche Kunststück vollbracht.«
Tess' Augen blitzten auf, aber sie antwortete nicht darauf. Statt dessen wandte sie sich wieder der Libelle zu und fragte:
»Weiß einer von euch, was, zum Teufel, das ist?«
Kara wollte antworten, aber Zen kam ihr zuvor. »Ich bin nicht sicher«, murmelte er. »Aber ich glaube, ich habe so etwas schon einmal in einem von Angellas Büchern gesehen.« Er sah Kara fragend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. »Ein Heliotopter... eine Maschine der Alten Welt.«
»Niemals«, sagte Tess impulsiv. Sie deutete auf die Trägerkonstruktion des Rumpfes. »Das Metall der Alten Welt rostet nicht.«
»Falsch«, korrigierte sie Zen. »Es rostet sehr wohl. Nur das, was heute noch übrig ist, rostet nicht. Der Rest hat sich längst in Staub aufgelöst.«
Während Tess und Zen sich zu streiten begannen, trat Kara näher an die zerstörte Maschine heran. So naiv Tess' Antwort auf den ersten Blick klang, sie war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Kara hatte noch nie ein rostiges Artefakt aus der Alten Welt gesehen. Was zweihunderttausend Jahre überdauerte, das überdauerte auch ein paar Tage oder Wochen im Dschungel.
Diese Maschine hier nicht.
Sie gehörte nicht zu den beiden, die sie am vergangenen Abend in die Flucht geschlagen hatten, sondern mußte schon eine ganze Weile hier liegen, ein paar Monate vielleicht. Die ledernen Bezüge der beiden Sessel waren voller schimmeliger Flecken und alle Metallteile völlig verrostet.
Aber wenn diese Maschine nicht aus der Alten Welt stammte, dachte Kara erschrocken, woher kam sie dann? Die Vorstellung, daß es auf dieser Welt jemanden gab, der in der Lage war, so etwas zu bauen, versetzte sie in Schrecken. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, daß Tess und Zen noch immer stritten, griff aber nicht ein, sondern versuchte, die Pilotenkanzel des Libellenflugzeuges zu öffnen. Sie fand keinerlei Tür oder irgendeinen Öffnungsmechanismus.
Vielleicht, überlegte sie, wurde die ganze Kuppel nach oben geklappt. Was dagegen sprach, war, daß die Leiche des Mannes verschwunden war, der ungefähr zehn Liter Blut auf dem durchbohrten Sessel hinterlassen hatte.
»Interessant, nicht?« Zen trat plötzlich neben sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kanzel.
»Was?«
Zen beugte sich vor und wies auf eine Anzahl wuchtiger Scharniere, die an der Kuppel befestigt waren. »Man muß das ganze Ding hochklappen, um einzusteigen. Aber das geht nicht mehr.« Seine flache Hand klatschte auf den Ast, der die Kanzel durchbohrt hatte. »Wie zugenagelt.«
»Und?« fragte Kara. Worauf wollte er hinaus!
»Wo ist der Pilot geblieben?« Zen deutete auf den Sitz. »Der Kerl hat geblutet wie ein abgestochenes Schwein. Ich glaube nicht, daß er noch aus eigener Kraft davongelaufen ist.«
»Vielleicht haben ihn seine Leute abgeholt?«
»Und sich danach die Mühe gemacht, die Kuppel wieder zu schließen?« Zen lachte. »Bestimmt nicht. Irgendwas stimmt hier nicht, Kara.«
»Was für eine tiefschürfende Erkenntnis«, spöttelte Tess. Zen sah sie schon wieder kampflustig an, und Kara trat mit einem raschen Schritt zwischen sie.
»Hört endlich mit dem Unsinn auf«, sagte sie streng. »Dafür haben wir wirklich keine Zeit. Laßt uns das Ding untersuchen und dann von hier verschwinden. Dieser Ort gefällt mir nicht.«
Zumindest in diesem Punkt schienen sie ausnahmsweise alle einer Meinung zu sein.
Trotzdem nahmen sie sich Zeit, das Wrack sehr gründlich in Augenschein zu nehmen. Und wenn Kara noch einen Beweis gebraucht hätte, daß die stählernen Libellen und die Männer in den blauschwarzen Uniformen, auf die sie in der Höhle tief unter Schelfheim gestoßen waren, zusammengehörten, dann fand sie ihn jetzt. Es war die Waffe der Libelle; ein zerborstener, gläserner Lauf, der wie ein Stachel unter der Kanzel hervorragte. Obwohl er beschädigt war, gab es doch keinen Zweifeclass="underline" ähnliche, nur kleinere Gewehre hatten die Männer getragen, die aus dem Tauchboot gekommen waren.
Kara versuchte trotz des Widerwillens, mit dem sie der Anblick der Flugmaschine erfüllte, sich so viele Einzelheiten wie möglich einzuprägen, denn sie war sicher, daß Aires und die anderen viele Fragen stellen würden, sobald sie zurück waren und von ihrem Fund erzählten. Irgendwann hatte sie genug gesehen und erinnerte die beiden anderen daran, daß sie noch eine Stunde ebenso anstrengender wie gefährlicher Kletterrei vor sich hatten. Tess wirkte ebenso erleichtert wie sie, aus der Nähe des unheimlichen Wracks zu kommen, aber Zen schüttelte fast erschrocken den Kopf.
»Gib mir noch zehn Minuten«, bat er. »Ich denke, ich kann die Kanzel öffnen und einen Blick hineinwerfen.«
Kara sah ins Innere der verglasten Pilotenkugel. »Glaubst du, du siehst mehr, wenn du die Glaskugel hochgeklappt hast?« Sie schlug mit den Knöcheln gegen die Kugel. Obwohl durchsichtig wie feinstes Kristall, fühlte sich das Material härter als Stahl an.
»Vielleicht«, sagte Zen. »Was machen schon zehn Minuten! Vielleicht finden wir ja etwas, was uns weiterhilft?«
Tess verdrehte die Augen, aber Kara gab Zen mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß sie einverstanden war. Er hatte recht - was machten schon zehn Minuten? Vielleicht war es vernünftiger, jetzt noch ein wenig Zeit zu investieren, als sich die nächsten Tage immer wieder zu fragen, ob sie vielleicht nicht doch einen wichtigen Hinweis übersehen hatten.