Wahrscheinlich vergingen weitere fünf Minuten, in denen sie völlig reg- und wortlos dasaßen und die Karte anstarrten, gelähmt von einer Mischung aus Entsetzen und Erstaunen.
Endlich war es Maran, der das Schweigen brach. »So ist das also«, murmelte er. »Jetzt verstehe ich, daß nie jemand zurückgekommen ist.« Seine Stimme bebte vor Zorn. Er war leichenblaß.
»Ein... ein zweiter Drachenfels«, flüsterte Kara. »Großer Gott. Er ist... er ist mindestens doppelt so groß wie der andere!«
Niemand antwortete ihr. Das Schweigen dauerte an und wurde bedrückender und schwerer, je länger es währte. Kara hatte das Gefühl, daß ihr gleich schwindelig wurde. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Ein zweiter Drachenfels! Und sie hatten geglaubt, Jandhis Hauptquartier aufgespürt und zerstört zu haben! Was für ein grausamer Witz des Schicksals - zehn Jahre lang hatten sie immer und immer wieder junge Reiter in den Schlund geschickt, ohne zu ahnen, daß der wirkliche Feind noch immer da war, genauso stark, wenn nicht stärker als zuvor.
»Was tun wir?« fragte Tess schließlich. Der Klang ihrer Stimme ließ Kara aufblicken. Tess war blaß und zitterte, aber sie war auf eine ganz andere Art erschreckt als Kara.
»Wir fliegen zurück«, antwortete Kara. »Morgen früh, sobald die Sonne aufgeht.«
Zen, Silvy und Maran atmeten erleichtert auf, während Tess Kara fast haßerfüllt anstarrte. »Zurück? Wieso willst du...«
»Wir kehren zum Hort zurück«, unterbrach sie Kara in schärferem Tonfall. »Sofort.«
»Jetzt, wo wir so weit gekommen sind?« schnappte Tess.
»Willst du warten, bis es zu spät ist?« fragte Kara. »Was glaubst du, warum keiner der anderen zurückgekehrt ist?« Sie legte demonstrativ die Hand auf die Karte. »Diese Karte ist vielleicht das Wertvollste, was je im Schlund gefunden wurde! Wir müssen sie zurückbringen!«
Tess schwieg, aber ihr Blick sprach Bände.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Kara ruhig, aber bestimmt. »Vergiß es. Einmal seid ihr damit durchgekommen, aber ein zweites Mal werde ich keinen Alleingang zulassen.«
Tess' Augen blitzten auf, aber sie schwieg. Kara sah sie einen Moment lang an, dann wandte sie sich an Maran. »Du bist mir dafür verantwortlich, daß sie keinen Unsinn macht, ist das klar? Wenn ich morgen früh aufwache und sie weg ist, dann werde ich dir höchstpersönlich den Kopf dafür abreißen.«
Maran lächelte über ihre Formulierung, aber Kara blieb sehr ernst, und nach einigen Sekunden erlosch Marans Lächeln und machte einem nervösen, fast infantilen Grinsen Platz. Kara war nicht sicher, ob ihre Reaktion richtig gewesen war. Sie kannte Tess gut genug, um zu wissen, daß sie mit ihren Worten wahrscheinlich eher Tess' Trotz schüren als ihre Einsicht fördern würde. Verdammt, warum war es nur so schwer, Entscheidungen zu treffen?
Sie beugte sich wieder über die Karte und musterte den gewaltigen Felsen. Er war größer als der Drachenfelsen und wurde vom gleichen Gewirr von Mauern, Türmen, Innenhöfen und zinnengesäumten Terrassen gekrönt.
»Das ist... unvorstellbar«, murmelte Zen. Er streckte die Hand aus, als wolle er den Berg berühren; ein Impuls, den Kara sehr gut verstand. Die dreidimensionale Abbildung war so naturgetreu, daß auch Kara glaubte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um den glatten Fels zu fühlen. »Er muß groß genug für Hunderte von Drachen sein!«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Silvy.
»Ach? Und warum nicht?«
»Weil wir sie schon vor zehn Jahren geschlagen haben«, antwortete Silvy heftig. »Wenn sie tausend Drachen hätten, hätten sie uns längst überrannt.«
»Laßt uns hinfliegen und nachsehen«, sagte Tess. »Wir finden es nicht heraus, wenn wir hier sitzen und herumraten.«
»Wir werden nachsehen«, versprach Kara. »Aber nicht allein.« Sie machte eine entschiedene Handbewegung, und Tess schluckte die Antwort herunter, die ihr auf der Zunge gelegen hatte. »Ich verspreche dir, daß du dabeisein wirst«, sagte Kara, »Ihr alle werdet dabeisein, wenn ihr das wollt. Doch zuerst müssen wir diese Karte zurückbringen. Aires und Cord müssen sie sehen.«
Sie blickte Tess aufmerksam an. Sie war sich nicht sicher - aber sie glaubte zumindest, daß sich das zornige Funkeln in ihren Augen ein wenig gelegt hatte. »In Ordnung«, sagte sie.
»Laßt uns sehen, welche Überraschungen diese Karte noch für uns bereit hat.«
Zwei Dinge versetzten sie noch in Erstaunen.
Zum einen war der Fundort der Karte nicht auf ihr eingetragen. Sie fanden eine ganze Reihe der großen, kraterförmigen Lichtungen, die das monotone Grün des Blätterdachs durchbrachen, aber an der Stelle, an der die abgestürzte Libelle gelegen hatte, fand sich etwas anderes, was kaum zu beschreiben war, irgend etwas Formloses befand sich unter den Baumwipfeln, etwas, das sich im Zehnsekundentakt der Karte bewegte, aber es war nicht zu erkennen, was es genau war.
Die zweite erstaunliche Entdeckung machten sie, als sie sich die Randbezirke der Karte ansahen. Ein Ausschnitt Schelfheims war zu erkennen, so detailliert, daß selbst einzelne Häuser auftauchten und Kara sich nicht einmal mehr gewundert hätte, wären plötzlich Menschen und Hornköpfe aus den Häusern getreten und hätten ihr zugewinkt. Auch die dahinterliegende Küstenregion - leider nicht der Drachenhort - ließ sich auf der Karte ausmachen.
Kara starrte eine der Küstenstädte so fassungslos an, daß es schließlich auch den anderen auffiel. »Was hast du?« fragte Zen.
»Diese Stadt«, murmelte Kara benommen.
Zen blickte das Rechteck am Rande der Steilküste einige Augenblicke lang verwirrt an, aber offenbar fiel ihm nichts Außergewöhnliches daran auf. »Und?«
»Es ist meine Heimatstadt«, antwortete Kara.
»Wie bitte?«
Kara nickte. »Ich bin dort aufgewachsen«, sagte sie. »Versteht ihr nicht? Diese Stadt war die letzte, die von Jandhis Feuerdrachen zerstört wurde. Sie existiert nicht mehr.«
»Aber das war vor zehn Jahren«, sagte Silvy. »Das bedeutet, daß...«
»Daß dieses Wrack seit mindestens zehn Jahren im Dschungel liegt«, führte Kara den Satz zu Ende. »Und die Karte ebenso alt ist.«
»Wahrscheinlich sogar älter«, sagte Zen düster. »Dieses Wrack sah aus, als läge es seit einem Jahrhundert dort.« Er atmete tief und hörbar ein. »Ist euch klar, was das bedeutet?«
Er sah sich fragend um. Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Es heißt nichts anderes, als daß sie seit mindestens zehn Jahren hier sind und uns beobachten.« Keiner der anderen antwortete darauf.
Aber als Kara am nächsten Morgen aufwachte, war Tess verschwunden. Sie bekam allerdings keine Gelegenheit, sich Maran vorzuknöpfen, wie sie ihm angedroht hatte. Maran und sein Drache waren ebenfalls fort. Und die Karte hatten sie auch mitgenommen.
28
Obwohl sie ihren Drachen das letzte abverlangten, sahen sie bis zum späten Nachmittag keine Spur von Maran oder Tess. Sie waren mit dem ersten Licht der Sonne losgeflogen, viel zu hastig, um sich im schwachen Licht des Morgens zu orientieren. Was allerdings verständlich war - Kara kochte innerlich vor Wut.
Daß die beiden ihren eindeutigen Befehl so offen mißachtet hatten, war schlimm genug. Aber daß sie die Karte mitgenommen hatten, war unverzeihlich und mehr als töricht. Begriffen sie denn nicht, daß sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, sondern vielleicht das Schicksal der ganzen Welt?
Was von Kara Besitz ergriffen hatte, war kein gewöhnlicher Zorn mehr, der nach einer Weile verrauchte. Zum ersten Mal im Leben spürte sie so etwas wie Mordlust. In gewisser Hinsicht war es ganz gut, daß sie Maran und Tess nicht einholten. Kara war nicht sicher, was geschehen wäre, hätte sie die beiden in die Finger bekommen.