Zen streifte mit sanfter Gewalt ihre Hand ab, watete ein paar Schritte ins Wasser hinein und zog sein Schwert. Ohne zu zögern, streckte er den Arm aus und angelte einen Wurzelstrang aus dem Meer; verwesende weiße Fäden, die traurig und leblos von seinem Schwert herabhingen.
»Gäa«, flüsterte Kara erschüttert. Zen sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Sein Fund hatte sie schlagartig der letzten Möglichkeit beraubt, sich selbst etwas vorzulügen.
Dieses Meer war nicht immer hier gewesen. Der Boden, aus dem sich der Felsen erhob, hatte vor nicht einmal langer Zeit zu Gäas Reich gehört. Das Wasser hatte sie erstickt wie den Wald, den sie und von dem sie sich ernährte.
Zen schleuderte das tote Geflecht angewidert von sich und schwenkte sein Schwert ein paarmal heftig durch das Wasser, um die Klinge zu reinigen. Tot oder nicht, Gäa war vermutlich das gefährlichste Geschöpf, das jemals auf diesem Planeten existiert hatte. Zen watete ans Ufer zurück, dann legte er plötzlich den Kopf in den Nacken und sah zu Silvy hinauf, die noch immer über der Insel kreiste. »Warum landet sie nicht?«
Silvy flog zu weit oben, um ihr etwas zurufen zu können, deshalb signalisierte Kara eine entsprechende Frage. Sie war ziemlich sicher, daß Silvy ihre weit ausholenden Gesten gesehen hatte. Aber die erhoffte Reaktion blieb aus. Ganz im Gegenteil schlug Silvys Drache plötzlich heftiger mit den Flügeln und schraubte sich in engen Spiralen wieder höher in den Himmel hinauf.
»Was, zum Teufel...« murmelte Zen und brach erschrocken mitten im Satz ab, als Silvys Drache plötzlich nach Norden schwenkte und über den abgestorbenen Wipfeln des Waldes verschwand.
O nein, dachte Kara. Nicht sie auch noch! Waren denn jetzt hier alle verrückt geworden?
Aber dann tauchte Silvys Drache aus der anderen Richtung über dem Wald auf. Sie war nicht mehr allein. Hinter ihr glitt der Schatten eines zweiten Drachen über den Himmel, und für wenige Augenblicke bildete sich Kara fast ein, auch ein drittes Tier zu erkennen. Aber das war nur ein Trugbild, etwas, das sie lediglich sehen wollte.
In aller Deutlichkeit allerdings bemerkte sie, daß mit diesem Drachen etwas nicht stimmte: So hoch sie auch flogen, konnte sie doch erkennen, daß das Tier entweder verletzt oder zu Tode erschöpft sein mußte: Seine Flügelschläge waren langsam und schwerfällig, er hatte Mühe, mit Silvys Drachen mitzuhalten, obwohl der fast gemächlich vor ihm dahinglitt. Immer wieder taumelte er oder drohte abzustürzen, und Kara war plötzlich nicht einmal mehr sicher, daß er das kurze Stück bis zur Insel noch schaffen würde. Sie konnte jetzt den Reiter erkennen, der zusammengesunken über dem Hals des Drachen lag, konnte aber nicht ausmachen, ob es sich dabei um Maran oder Tess handelte.
Sie liefen ein Stück vom Ufer zurück und begannen Silvy zuzuwinken. Silvy lenkte ihr Tier in einer eleganten Schleife auf die Insel zu, und der zweite Drache versuchte, das Manöver nachzuvollziehen, hatte aber nicht mehr die nötige Kraft. Er taumelte, und seine Schwinge berührte die Baumkronen. Ein gewaltiges Splittern und Krachen erscholl; der zweite Drache schrie vor Schmerz und Angst und sackte einen entsetzlichen Moment lang wie ein Stein in die Tiefe, ehe es ihm mit einer verzweifelten Anstrengung gelang, seinen Sturz abzufangen.
Wie durch ein Wunder wurde der Reiter auf seinem Rücken bei diesem Manöver nicht abgeworfen.
»Wir müssen ihm helfen!« schrie Zen.
Ja, dachte Kara. Aber wie? Ihr Blick suchte die beiden anderen Tiere. Die Drachen waren unruhig und bewegten die Flügel, als spürten sie wie Kara, in welcher Gefahr ihr Gefährte schwebte.
»Er stürzt!«
Zens Stimme überschlug sich, und Karas Herz macht einen erschrockenen Sprung, als sie sah, daß der Drache tatsächlich steil in die Tiefe schoß. Fast auf sie und Zen zu! Einen schrecklichen Moment lang war sie fest davon überzeugt, daß er sie treffen und zermalmen würde, dann warf sich das Tier im buchstäblich allerletzten Moment herum, breitete noch einmal die Flügel aus und glitt um Haaresbreite über ihnen hinweg.
Sie wurden beide von den Füßen gerissen und stürzten. Kara schlug sich Hände und Knie auf den harten Felsen blutig, während der Drache ein Stück von der Insel entfernt auf dem Wasser aufprallte.
Kara fegte mit einem gewaltigen Satz an Zen vorbei, stieß sich ab und landete im Wasser, noch ehe sie auf ihre innere Stimme hören konnte, die ihr verzweifelt zuzuschreien versuchte, daß sie nicht schwimmen konnte. Rasend schnell schoß sie durch das schäumende Wasser, sah eine Gestalt vor sich in der Gischt auftauchen und griff instinktiv zu. Ihre Finger bekamen nasses Leder zu fassen. Kara klammerte sich mit verzweifelter Kraft am Flügel des tobenden Drachen fest und brachte sogar irgendwie das Kunststück fertig, sich weiter hinaufzuziehen. Es war völlig absurd, aber während sie sich keuchend und mit letzter Kraft Stück für Stück weiter auf die peitschende Riesenschwinge hinaufarbeitete, war ihr einziger Gedanke, daß sie Cord oder Storm unbedingt darum bitten mußte, ihr das Schwimmen beizubringen, sobald sie zurück im Hort war.
Wahrscheinlich hätte sie es nicht geschafft, hätte der Drache nicht zu toben aufgehört. Seine Bewegungen wurden schwächer, und schließlich lag die gewaltige Schwinge still wie das Segel eines untergegangenen Schiffes auf dem Wasser.
Kara gönnte sich eine einzige, kostbare Sekunde, um wieder zu Atem und Kräften zu kommen, dann stemmte sie sich auf Hände und Knie und kroch los. Der Drache rührte sich nicht mehr, aber der Flügel gab unter ihrem Gewicht immer wieder nach. Sie wußte, daß der Drache tot war, lange bevor sie seinen Körper erreichte und sich auf seinen schuppigen Rücken hinaufzog. Es war nicht der Sturz gewesen, der ihn umgebracht hatte.
Seine Flanken und sein Hals waren übersät mit tiefen, blutenden Wunden. Wie es schien, hatten Tess und Maran wirklich den zweiten Drachenfels gefunden.
Sie versuchte, den Schmerz zu verdrängen, mit dem sie der Tod des Drachen erfüllte, und eilte auf die reglose Gestalt in seinem Nacken zu. Es war Maran, und Kara erkannte, weshalb er bei dem verzweifelten Flugmanöver des Tieres nicht abgeworfen worden war: Er hatte sich im Sattel festgebunden. Aber er regte sich nicht, und er reagierte auch nicht, als Kara seinen Namen rief.
Voller Panik kniete sie neben ihm nieder, zerrte den Dolch aus dem Gürtel und zerschnitt die Lederriemen, die Maran hielten. Mit einer schrecklich schlaffen Bewegung sackte Maran zur Seite und wäre ins Wasser gefallen, hätte Kara nicht rasch zugegriffen und ihn aufgefangen. Seine Haut war eiskalt, und für einen furchtbaren Moment war sie ganz sicher, daß auch er tot war.
Sie konnte ihn kaum noch halten. Ihre Finger glitten auf dem nassen Leder seiner Jacke ab. Wo, zum Teufel, blieb Zen?
Sie sah zum Ufer zurück. Zen war bis auf die Hüften ins Wasser gewatet, unternahm aber keinen Versuch näher zu kommen.
Natürlich - er konnte auch nicht schwimmen. Die wenigsten Drachenkrieger konnten schwimmen.
Kara versuchte, die Hände in Marans Jacke zu krallen, aber immer wieder entglitt sie ihm. Verzweifelt und ohne wirklich darüber nachzudenken, packte sie schließlich sein schulterlanges, dichtes Haar. Ob sie ihn auf diese Weise wirklich gehalten hätte, erfuhr sie nie - ihr Griff bereitete ihm auf jeden Fall genug Schmerzen, um ihn aus der Bewußtlosigkeit zu reißen.
Stöhnend öffnete er die Augen, tastete blindlings um sich und fand am schuppigen Hals des toten Drachen Halt.
»Verdammt, hilf mir!« stöhnte Kara. Die Anstrengung überstieg fast ihre Kräfte. »Willst du ertrinken?«
Maran kam langsam zu sich; er schien zu begreifen und griff kräftig zu. Endlich schwand der entsetzliche Druck von ihren Schultermuskeln. Sie atmete erleichtert auf, ließ aber erst ganz los, als sie sicher war, daß sich Maran aus eigener Kraft halten konnte.