Wenige Augenblicke später spürte Kara, wie der Boden unter ihnen zu zittern begann; und noch einmal Augenblicke später traf ein warmer Lufthauch ihr Gesicht. Kara blinzelte stöhnend.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie konnte noch nichts sehen außer dem in ihre Netzhaut gebrannten Bild des Waldes.
Und plötzlich war sie sicher, daß dieses Bild ihr vermutlich das Augenlicht gerettet hatte. Hätte der Wald nicht den allergrößten Teil der entsetzlichen Lichtflut aufgehalten, wäre sie jetzt blind.
Aber auch so vergingen noch Minuten, bis sie ihre Umgebung wenigstens wieder schemenhaft erkennen konnte. Ihr erster Blick galt Silvy und Zen. Beide hockten zusammengekrümmt da. Silvy blinzelte ununterbrochen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Zen preßte noch immer stöhnend die Hand vor die Augen.
Voller Angst wandte Kara sich wieder nach Norden um.
Der Wald loderte rot im Widerschein zahlloser Brände, die in seinen Wipfeln tobten. Dahinter erhob sich ein schwarzes Ungeheuer, so hoch wie der Himmeclass="underline" eine ungeheuerliche, brodelnde Wolke von der Form eines Pilzes, in der es noch immer rot und orange aufleuchtete. Kara glaubte, auch einige dünne, grüne Blitze zu erkennen, die zwischen Boden und Himmel hin und her zuckten. Vor ihren Augen tanzten noch immer bunte Farbkleckse und Schlieren.
Kara hatte noch nie zuvor solch ein Höllenspektakel gesehen, aber der Anblick berührte irgend etwas tief in ihrem Inneren, eine Erinnerung, die sie nie zuvor bewußt gehabt hatte, die aber immer dagewesen war, vielleicht ein Teil eines kollektiven Gedächtnisses, das sie mit jedem anderen denkenden Wesen dieses Planeten teilte. Sie war gelähmt vor Entsetzen, unfähig, sich zu bewegen, zu denken oder auch nur den Blick von dieser furchtbaren Feuersbrunst zu lösen. Dieses schwarze brüllende Monstrum war der gestaltgewordene Teufel, der aus dieser Welt das gemacht hatte, was sie war. Es war DER FEIND, den man nicht bekämpfen und vor dem man nicht davonlaufen konnte.
Es war ein Feind, der durch sein bloßes Dasein tötete.
Auch Silvy und Zen hockten wie gelähmt da, mit offenen Mündern, starren Augen und schreckensbleichen Gesichtern.
Endlos lange starrten sie den schwarzen Höllenpilz an, der immer noch wuchs und wuchs, als wolle er den gesamten Himmel verschlingen.
Schließlich sank Silvy mit einem Wimmern zu Boden und verbarg das Gesicht zwischen den Händen.
Ihre Bewegung brach den Bann. Es gelang Kara endlich, ihren Blick von der fürchterlichen Erscheinung loszureißen, und auch Zen drehte sich mit einem erschöpften Seufzer zur Seite. »Großer Gott!« flüsterte er. »Was... was war das?«
Keiner von ihnen wußte es, und zugleich spürten sie alle genau dieses Wissen tief in sich, nicht die Antwort auf Zens Frage, sondern das Wissen, daß dieses... Etwas der Inbegriff aller Schrecken war, ein entsetzliches, durch und durch BÖSES Wesen.
Wieder verging eine lange, lange Zeit, in der keiner von ihnen sprach oder sich auch nur nennenswert bewegte. Dann begann Maran plötzlich zu stöhnen und sich unruhig hin und her zu werfen. Er öffnete die Augen, versuchte den Kopf zu heben und sank keuchend wieder zurück.
»Bleib liegen«, sagte Kara. Es fiel ihr schwer, überhaupt zu sprechen. Angellas Stimme, die noch immer irgendwo in ihr war, versuchte ihr zu erklären, daß Maran jetzt jede nur erdenkliche Hilfe von ihr brauchte, aber sie brachte einfach nicht die nötige Kraft auf, ihm irgendwie beizustehen. Sie legte die Hand auf seine Stirn, aber es war eine leere Geste ohne jede Bedeutung.
Maran schob ihren Arm zur Seite und stemmte sich mühsam auf. Er wollte etwas sagen, aber in diesem Moment fiel sein Blick auf den Rauchpilz am Horizont. Seine Augen weiteten sich. »Was... was ist das?« krächzte er.
»Irgend etwas ist explodiert«, antwortete Kara ausweichend.
Ihre Lippen waren spröde und schmerzten, als sie sprach. »Wie fühlst du dich?«
Maran antwortete, ohne den Blick von der grauenerregenden Erscheinung am Himmel zu nehmen. »Ich habe höllische Schmerzen.«
»Gut«, sagte Zen. »Ich hoffe, es wird noch schlimmer. Wo ist Tess? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Tess?« Maran schien im ersten Moment nicht einmal zu verstehen, wovon er sprach. Dann legte sich eine tiefe Trauer auf sein Gesicht. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Aber ich fürchte, sie ist tot.«
»Du...« Zen sprang auf und machte einen drohenden Schritt auf Maran zu. Sein Gesicht war verzerrt.
»Zen!«
Kara hob besänftigend die Hand, aber ihre Stimme war scharf wie eine Messerklinge, so daß Zen tatsächlich innehielt.
Kara sah ihn fast beschwörend an, während ihre freie Hand zum Schwertgriff wanderte. Zens Hände zuckten, und für einen Moment glühte in seinen Augen pure Mordlust, die nicht nur Maran, sondern auch ihr galt. Plötzlich begriff Kara, wie gefährlich die Situation war. Es war nicht nur Zens Sorge um Tess, sie alle hatten ins Herz der Hölle geblickt und ein Entsetzen kennengelernt, das mit Worten nicht einmal zu beschreiben war.
»Bitte, Zen«, sagte sie ein wenig sanfter. »Beruhige dich. Laß ihn erzählen.« Sie wandte sich an Maran. »Wenn du dich in der Lage dazu fühlst.«
»Erzählen?« Maran machte eine verwirrende Geste. »Ja, ich... ich versuche es. Aber ich... ich erinnere mich kaum.«
»Das würde ich an deiner Stelle auch nicht«, bemerkte Zen voller Haß.
»Jetzt halte endlich den Mund!« fuhr ihn Kara an. »Setz dich hin!«
Zen starrte abwechselnd sie und Maran an. In seinem Gesicht arbeitete es. Für einen Moment war Kara nicht sicher, daß er ihr gehorchen würde. Aber dann ließ er sich mit einer trotzigen Bewegung zu Boden sinken und starrte Maran nur haßerfüllt an. Kara machte eine auffordernde Geste. »Was ist passiert?«
»Ich... weiß nicht einmal, wie... wie ich zurückgekommen bin«, murmelte Maran. »Wie komme ich hierher? Wasser. Da war Wasser, Hast du mich... herausgeholt?«
»Ja. Aber was ist vorher geschehen, Maran? Ihr wart dort, nicht wahr?« Sie deutete auf den Horizont im Norden, vermied es aber, in diese Richtung zu sehen.
Maran schluchzte. »Ja. Ich...«
»Wie hast du Tess dazu gebracht, dich zu begleiten?« unterbrach ihn Zen aufgebracht.
Kara warf ihm einen warnenden Blick zu - aber sie sagte nichts. Maran setzte sich mit einem Ruck ganz auf und funkelte Zen an.
»Ich?« schnappte er. »Bist du verrückt? Sie ist einfach auf ihren Drachen gestiegen und davongeflogen! Ich habe versucht, sie zurückzuhalten, aber es ist mir nicht gelungen.«
»O ja!« höhnte Zen. »Das glaube ich dir! Deswegen hattest du ja auch die Karte in der Tasche, nicht wahr?« Er zog die Karte unter der Jacke hervor und schleuderte sie vor Maran auf den Boden. Maran blickte sie verstört an, und Kara beugte sich rasch vor und nahm die Karte an sich.
»Reiß dich zusammen, Zen«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Erzähle weiter, Maran. In allen Einzelheiten. Und - bitte - die Wahrheit.«
»Ich habe nichts zu verbergen!« antwortete Maran in einem Ton, der in Karas Ohren eine Spur zu heftig klang. »Du hattest mir befohlen, auf Tess aufzupassen«, fuhr er fort, »und genau das habe ich getan. Ich gebe zu, ich bin eingeschlafen, aber ich wurde wach, als ich sie in der Höhle hantieren hörte. Ich sah, daß sie die Karte an sich genommen hatte, und ging ihr nach, um sie zur Rede zu stellen.«
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Warum sollte ich? Ich konnte ja nicht ahnen, daß sie plötzlich verrückt spielt!«
»Verrückt spielt?«
Maran zögerte einen Augenblick. »Sie hat mich niedergeschlagen«, gestand er. »Ohne Warnung. Ich muß wohl einen Moment das Bewußtsein verloren haben. Als ich wieder zu mir kam, war sie schon auf ihrem Drachen.«