»Und warum hast du uns da nicht geweckt?« fragte Kara mißtrauisch. Etwas an Marans Geschichte gefiel ihr nicht.
»Dazu war keine Zeit«, verteidigte sich Maran. »Es war dunkel! Was hätte ich tun sollen? Auf euch warten? Bis dahin wäre sie längst in der Nacht verschwunden gewesen! Ich bin zu meinem Drachen gelaufen und habe die Verfolgung aufgenommen.«
»Du hättest schreien können - während du zu deinem Drachen rennst.«
»Ich gebe zu, das war ein Fehler«, sagte Maran - in einem Ton, der klarmachte, daß er eigentlich gar nichts zugab. »Ich war wütend. Und ich dachte, ich hätte eine gute Chance, sie einzuholen und zurückzubringen, bevor...«
»Bevor was?« fragte Zen, als Maran nicht weitersprach.
»Bevor ihr überhaupt etwas merkt«, antwortete Maran heftig. »Verdammt, glaubst du, ich war stolz darauf, daß sie mich übertölpelt hat? Ich war wütend. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Na und? Willst du mich dafür erschlagen oder aufhängen lassen?«
»Du hast sie also nicht eingeholt«, sagte Kara rasch, ehe Zen antworten konnte.
Maran schnaubte. »Eingeholt? Sie hat Katz und Maus mit mir gespielt! Erst als die Sonne aufging, erreichte ich sie. Sie hatte auf mich gewartet.«
»Wieso?«
»Woher soll ich das wissen?« schnappte Maran. »Vielleicht wollte sie nicht allein weiterfliegen. Vielleicht hatte sie auch Angst, daß ich nicht zu euch zurückfinde und ums Leben komme. Wir haben uns gestritten. Ich habe ihr die Karte fortgenommen und verlangt, daß wir zurückfliegen. Aber sie hat sich geweigert. Und schließlich hat sie mich überzeugt, daß wir genausogut auch weiterfliegen konnten. Es war nicht mehr allzu weit.« Seine Stimme nahm wieder jenen verteidigenden Tonfall an, der es Kara so schwermachte, ihm zu glauben. »Ich hatte nicht vor, den Felsen anzugreifen. Ich wollte nur einen Blick darauf werfen und dann zurückfliegen. Und Tess hat mir versprochen, nichts ohne mein Einverständnis zu unternehmen.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Zen.
Kara stimmte ihm im stillen zu, gebot ihm aber mit einer unwilligen Geste, still zu sein.
»Nach zwei Stunden konnten wir den Felsen sehen«, fuhr Maran fort. »Er sieht wirklich genauso aus wie auf der Karte. Aber er ist sehr viel größer, als ich dachte. Er muß Platz für tausend Drachen bieten, falls es dort noch welche gibt.«
»Falls?« fragte Kara. »Wart ihr denn nicht da?«
»Nicht nahe genug, um Einzelheiten zu erkennen«, antwortete Maran düster. »Ich schätze, wir waren noch fünfzig oder sechzig Meilen entfernt, als sie uns angriffen.«
»Libellen?«
Maran nickte. »Ein ganzer Schwarm«, sagte er. »Zwanzig oder dreißig Maschinen. Wir konnten eine vernichten, aber dann mußten wir fliehen. Tess und ich wurden getrennt. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist.«
»Du hast dich nicht einmal überzeugt, was ihr passiert ist?« fragte Zen aufgebracht.
»Ich hatte zu tun, weißt du?« fauchte Maran. »Ich hatte ein Dutzend von diesen... Dingern am Hals und war damit beschäftigt, am Leben zu bleiben - wenn du gestattest.«
»Hört auf!« sagte Silvy erschrocken. »Still!«
Alle drei sahen sie überrascht an. Silvy hatte sich wieder aufgesetzt und den Kopf in den Nacken gelegt. »Hört ihr nichts?« flüsterte sie.
Im ersten Moment hörte Kara tatsächlich nichts - aber dann vernahm sie ein fernes, dunkles Grollen, das sie bis ins Mark erschreckte, ohne daß sie auch nur wußte, was es war. Sie sah auf...
... und sprang mit einem Schreckensschrei in die Höhe.
Die Brände im Norden erloschen einer nach dem anderen, und im gleichen Augenblick wußte Kara, was sich ihnen näherte. »Weg hier!« schrie sie. »Auf die Drachen! Schnell!«
Sie riß Maran in die Höhe und zerrte ihn mit sich, während die beiden anderen zu ihren Drachen hetzten. Markor bewegte sich unruhig, und Marans Gewicht erschwerte es ihr noch mehr, auf den Rücken des Drachen zu klettern. Sie mußte Markor keine Befehle mehr erteilen; der Drache breitete die Schwingen aus und stieß sich mit einem gewaltigen Satz in die Höhe, kaum daß Kara im Sattel saß.
Keine zwanzig Sekunden später erbebte die Insel unter dem Anprall einer gewaltigen Flutwelle. Gischt spritzte so hoch in die Luft, daß selbst Kara auf Markors Rücken noch einige Spritzer abbekam. Kara hörte ein krachendes Splittern, als einige der Baumriesen am Waldrand umstürzten. Die Insel verschwand im brodelnden Meer.
»Das war knapp«, keuchte Maran. »Eine Minute später, und...«
Kara nickte wortlos. Sie starrte gebannt in die Tiefe. Das Wasser war einfach über die Insel hinweggespült.
»Was war das?« flüsterte Maran. »Du hast behauptet, etwas wäre explodiert?«
»Es war wohl eine ziemlich große Explosion«, murmelte Kara. Ihre Stimme klang flach, und sie spürte, wie das Entsetzen ihr ganzes Denken lähmte. Was würde noch passieren?
Eine Weile kreisten sie über der Lichtung, bis Kara glaubte, daß sie das Schlimmste hinter sich hatten, und das Zeichen zur Landung gab. Natürlich war an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Also konnten sie auch ebensogut Pläne für ihr weiteres Vorgehen schmieden.
»Jetzt, wo wir die Karte wiederhaben, können wir ja zurückfliegen«, sagte Silvy.
Kara deutete ein Achselzucken an, und Maran und Zen reagierten gar nicht. Aber Kara ahnte, was in ihnen vorging. Zen würde nicht von hier fortgehen, solange er nicht genau wußte, was mit Tess geschehen war, und Maran mußte irgendwelche anderen Gründe haben, die Kara immer noch nicht verstand.
Sie wußte nicht warum, aber sie glaubte ihm die Geschichte nicht völlig, die er ihnen erzählt hatte.
Und sie selbst?
Ohne ihr Zutun wanderte ihr Blick wieder nach Norden. Jetzt, wo die Brände erloschen waren, sah sie den Pilz aus Rauch und Qualm nur noch als gewaltigen Schatten, dessen Umrisse den Sternenhimmel verdunkelten. Sie hatte noch immer entsetzliche Angst davor, aber plötzlich wußte sie, daß auch sie nicht hier weggehen konnte, ohne zu wissen, was dort geschehen war. Sie mußte es sehen, gleichgültig, wie entsetzlich es war.
»Wir warten, bis es hell wird«, bestimmte sie. »Dann fliegen Zen und ich hinüber.«
»Bist du wahnsinnig?« keuchte Silvy. »Willst du, daß sie euch umbringen wie Tess?«
»Wir wissen nicht, ob sie tot ist«, antwortete Kara. »Wenn du an ihrer Stelle wärst, würde ich dich auch nicht zurücklassen - und ich würde dasselbe von euch erwarten. Außerdem glaube ich nicht, daß dort noch irgend jemand lebt, der uns gefährlich werden könnte.« Sie wußte, daß sie sich damit selbst widersprach, aber keiner der anderen schien es zu bemerken.
»Es bleibt dabei«, sagte sie noch einmal. »Du bleibst zusammen mit Maran hier. Ihr wartet bis zum nächsten Morgen.« Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie die Karte und gab sie Silvy. »Wenn ihr angegriffen werdet oder wir nach Ablauf eines Tages nicht zurück sind, dann bringst du die Karte zu Aires.«
Silvy drehte die Karte unschlüssig in den Fingern. Sie sah Maran an, stellte aber keine Fragen mehr. Sie wußten alle, daß Marans momentanes Wohlbefinden täuschte. Der Zusammenbruch würde kommen, vielleicht schon morgen.
»Sollen wir nicht besser zwei Tage warten?«
»Vierundzwanzig Stunden«, beharrte Kara. »Wenn wir bis zum nächsten Sonnenaufgang nicht zurück sind, dann kommen wir vermutlich nicht wieder.«
30
Es war, wie Maran behauptet hatte: Als die Sonne aufging, sahen sie den Schatten des zweiten Drachenfelsens am Horizont. Da sie die Entfernung nicht kannten, war es unmöglich, seine Größe zu schätzen; aber er mußte gewaltig sein. Unter ihnen begann sich das Land auf furchtbare Weise zu verändern.