Die Flutwelle, der sie mit knapper Not entkommen waren, hatte wie ein Orkan im Wald gewütet. Gewaltige Schneisen gähnten zwischen den Bäumen. Sie überflogen Gebiete, in denen nur noch zersplitterte Stümpfe aus dem Wasser ragten.
Und wo die Springflut nicht zugeschlagen hatte, da hatten gewaltige Brände den Wald verwüstet. Eine unbestimmte Trauer ergriff von Kara Besitz, während sie in zwei Meilen Höhe über den verbrannten Wald dahinglitten. Was immer auch geschah und was immer sie auch taten, die Wunden, die dieses Land davongetragen hatte, würden niemals wieder heilen.
Bevor sie den Drachenfelsen erreichten, wollten sie noch einmal eine Rast einlegen. Es dauerte allerdings eine ganze Weile, bis sie einen geeigneten Landeplatz fanden, denn die Bäume lichteten sich mehr und mehr. Sie flogen im Grunde nicht mehr über einen Wald, der unter Wasser stand, sondern über ein Meer, aus dem hier und da ein Baum ragte. Sie rasteten eine halbe Stunde, dann flogen sie weiter.
Allmählich traten die Einzelheiten des zweiten Drachenfelsens stärker hervor. Anders als sein kleinerer Bruder im Westen glich er einer gewaltigen, sehr schlanken Pyramide. Sämtliche Grate und Kanten wirkten wie abgeschliffen.
Sie überschritten die Grenze, die Maran ihnen genannt hatte, ohne angegriffen zu werden. Keine Libellenmaschinen tauchten auf, kein grünes Licht stach nach ihnen. Sie sahen nicht die geringste Bewegung, nicht das kleinste Zeichen von Leben. Der Berg ragte aus der Oberfläche eines leblosen Ozeans empor.
Kara signalisierte Zen, ihr zu folgen, und lenkte Markor fast bis auf die Wasseroberfläche herab. Sie ahnte, daß es eine vergebliche Vorsichtsmaßnahme war - die Männer in den eisernen Libellen waren nicht auf ihre Augen angewiesen, um zu sehen. Ihr Herz begann vor Aufregung hart und schwer zu schlagen, während sie die zyklopische Felsnadel zweimal in respektvoller Entfernung umkreisten. Kara hatte sich geirrt: Der Berg war nicht glatt geschliffen, sondern geschmolzen. Hier und da glühte die Lava noch in einem tiefen, drohenden Rot.
Grauer Rauch kräuselte sich aus gewaltigen Rissen und Spalten, die in seinen Flanken klafften.
In kleiner werdenden Spiralen stiegen sie wieder höher.
Karas Blick suchte die schwarze Felswand ab, die rechts von ihr emporwuchs, aber sie entdeckte keine Spur von Leben. Die Maschinen, die Tess und Maran angegriffen hatten, waren nicht mehr da - oder Opfer des höllischen Feuerblitzes geworden, den sie in der Nacht gesehen hatten.
Karas Verdacht, daß dieser Berg im Zentrum der ungeheuerlichen Explosion gelegen hatte, wurde zur Gewißheit, als sie den Gipfel erreichten. Der größte Teil der Verteidigungs- und Festungsanlagen, die seinen Gipfel gekrönt hatten, war völlig zerstört. Mauern und Türme waren zermalmt oder zu Staub zerfallen, große Gebäude wie von einer riesigen Hand zusammengedrückt worden, der Fels war zu riesigen, unförmigen Steinsbrocken zusammengeschmolzen, über denen die Luft noch immer vor Hitze flimmerte.
Von Westen nach Osten hin nahm die Schwere der Zerstörung ab. Offensichtlich hatte der Hauch des tödlichen Feuers die westliche Flanke des Berges getroffen, so daß es an seiner gegenüberliegenden Seite noch Teile der Festung gab, die nur leicht oder auch gar nicht beschädigt waren. Da und dort entdeckten sie die Überreste von Libellenmaschinen, und einmal glaubte Kara auch eine Bewegung zu erkennen, aber als sie genauer hinsah, war es nur ein toter Schatten.
Plötzlich riß Zen seinen Drachen so abrupt zur Seite, daß Kara im allerersten Moment glaubte, er wäre von irgend etwas getroffen worden. Aber im gleichen Augenblick sah sie, daß er heftig gestikulierte, und reagierte ganz instinktiv. In einer engen Kurve jagte sie Markor hinter Zens Drachen her und versuchte, in Blickkontakt mit ihm zu treten.
Sie waren zu weit voneinander entfernt, um zu sprechen, und Zen war so aufgeregt, daß Kara seine Zeichen nicht genau verstand. Aber sie begriff, daß er auf dem Turm über ihnen etwas entdeckt hatte. Völlig ohne Leben schien dieser verbrannte Berg wohl doch nicht zu sein. Kara bedeutete ihm, zurückzubleiben und ihr den Rücken freizuhalten, dann steuerte sie Markor in einer langgezogenen Spirale auf den Turm zu. Sie flog ihn sehr niedrig an, darauf gefaßt, angegriffen zu werden. Sie war sich sehr schmerzhaft bewußt, welch leichtes Ziel sie jedem Heckenschützen bieten mußte. Ärgerlich auf sich selbst verscheuchte sie den Gedanken. Es hatte wenig Sinn, sich selbst verrückt zu machen. Trotzdem waren ihre Hände naß vor Schweiß, als sie sich dem zinnengesäumten Innenhof näherte, vor dem Zen so plötzlich beigedreht hatte.
Es gab keine Heckenschützen. Aber auf dem Hof standen drei der riesigen Libellenmaschinen. Der Anblick hätte Kara nicht überraschen dürfen, aber sie war dennoch so erstaunt, daß sie über den Hof hinwegflog, ohne etwas anderes zu tun, als die plumpen Kolosse aus braungrün geflecktem Stahl anzustarren, die unter ihr auf dem Hof hockten, ihre Köpfe einander zugedreht, als wären es wirklich große, eiserne Tiere, die hierhergekommen waren, um miteinander zu reden. Sie ähnelten den Maschinen kaum, die sie im Wald getroffen und gegen die sie gekämpft hatten. Trotzdem erkannte Kara auf den ersten Blick, daß sie der gleichen Technologie entstammten.
Kara kreiste dreimal über dem Turm, ohne irgendein Anzeichen der Besatzung zu entdecken. Allerdings wurde ihr sehr schnell klar, daß sie hier irgendwo sein mußten. Welche Katastrophe auch immer diesen Berg getroffen hatte: Die Heliotopter waren danach gelandet. Und da die Maschinen weitaus größer waren als die, die sie bisher kennengelernt hatten, standen auch ihre Chancen recht gut, auf mehr als sechs Männer zu stoßen...
Ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis, während sie zu Zen zurückflog und ihm mit knappen Gesten ihren Plan signalisierte. Sie wußte eigentlich nicht, was sie tun sollte. Sie hatten nur einen einzigen Vorteil auf ihrer Seite: das Überraschungsmoment.
Sie ließ Markor ein wenig langsamer fliegen, während Zen seinen Drachen vor sie setzte und hoch und schnell auf den Turm zusteuerte. Markor knurrte, als spüre er Karas Erregung.
Sie war immer noch nicht sicher, ob sie richtig handelten. Aber es war zu spät für Zweifel. Der Turm raste auf sie zu, und dann waren sie über ihn hinweggeglitten und steuerten die Libellen an. Einen Wimpernschlag bevor sie heran waren, glaubte Kara, eine Bewegung unter einer der Türen wahrzunehmen, die ins Innere des Turmes hineinführten, doch ihr blieb keine Zeit mehr, sich zu überzeugen, ob sie es sich nur eingebildet hatte.
Zens Drache breitete einen Vorhang aus orangeroten Flammen über dem Hof aus, und wenig später stieß Markors Feueratem in diese Glut hinein und verwandelte den Turm in einen flammenspeienden Vulkan.
Die drei Libellen explodierten. Während Zen und sie ihre Drachen in verschiedene Richtungen abdrehten, um nicht von ihrer eigenen Glut erfaßt zu werden, glommen inmitten des Feuervorhanges drei grellweiße Bälle auf. In respektvollem Abstand umkreisten sie den Turm, ehe sie es wagten, sich wieder zu nähern. Schwarzer Rauch hing über der Festung, aber das Feuer war bald erloschen, als die Maschinen ausgebrannt waren. Trotzdem war der Stein noch zu heiß, um zu landen.
Zweimal flog Markor an, und zweimal zog er sich mit einem zornigen Knurren wieder zurück, als seine Krallen die glühende Lava berührten. Erst nachdem sie noch einmal zehn endlose Minuten gewartet hatten, gelang es dem Drachen, auf einem Teil der zerstörten Zinnenkrone Halt zu finden, so daß Kara absteigen konnte.
Sie rannte auf die Tür zu, hinter der sie eine Bewegung zu sehen geglaubt hatte. Der Stein war noch immer so heiß, daß es ihr selbst durch die dicken Stiefelsohlen hindurch Schmerzen bereitete. Mit großen, beinahe grotesk aussehenden Sprüngen erreichte sie die Tür, stürmte hindurch und stolperte über etwas, das im Schatten dahinterlag. Sie versuchte vergebens, ihren Sturz abzufangen. Sie fiel gegen die Wand, prallte zurück und stürzte auf die Hände und Knie. Selbst hier war der Boden so heiß, daß sie schmerzhaft die Luft einsog und hastig wieder in die Höhe sprang.