Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Sie war allein. Vor ihr verlor sich der Gang nach einem knappen Dutzend Schritten in völliger Finsternis, und hinter ihr, nur einen Schritt vom Eingang entfernt, lag ein geschwärztes Etwas, das einmal ein Mensch gewesen sein mochte. Sie hatte sich also nicht getäuscht; etwas hatte sich hier bewegt.
Sie warf einen Blick auf den Hof und stellte fest, daß Zen noch immer nach einem Landeplatz suchte, dann ging sie neben dem Toten in die Hocke und zwang ihren Ekel soweit zurück, daß sie ihn untersuchen konnte. Es war nicht mehr festzustellen, ob das Kleidungsstück, das der Tote trug, eine jener verhaßten blauschwarzen Uniformen gewesen war. Mit ihrem Schwert drehte Kara die verkohlte Leiche herum. Gesicht und Brust des Toten waren ebenso verbrannt wie sein Rücken, aber seine verkrampften Finger hielten etwas, das Kara sofort wiedererkannte, obwohl es rußgeschwärzt war und sich das Metall in der Glut des Drachenfeuers ein wenig verzogen hatten: Es war eine der Waffen, die das entsetzliche grüne Licht verschossen.
Angewidert löste sie die Waffe aus den Händen des Toten, wischte mit ihrem Umhang die schwarze, schmierige Schicht herunter, die Schaft und Lauf bedeckte, und drehte sie unschlüssig in den Händen. Der gläserne Lauf schimmerte so glatt und bösartig, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und als sie mit dem Daumen über den Schaft fuhr, sah sie ein winziges, mattgrünes Licht.
Kara erschauerte, als wäre ihr kalt. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dieses Ding auch nur zu berühren. Sie hatte das Gefühl, das, was sie eigentlich verteidigte, zu verraten, wenn sie diese Waffe benutzte.
Aber weder Aires noch Angella hatten je Bedenken gehabt, Dinge der Alten Welt einzusetzen, wenn es ihren Zwecken diente. Und aus Angellas Erzählungen wußte sie, daß auch Tallys Drachenwaffen nichts anderes als Laserpistolen gewesen waren.
Kara zögerte noch einen ganz kurzen Moment, dann hob sie das Gewehr und berührte das, was sie für den Abzug hielt. Ein bösartiges Licht glomm im Lauf der Waffe auf, dann spannte sich plötzlich ein haardünner, singender Lichtfaden von giftgrüner Farbe zwischen Karas Händen und der gegenüberliegenden Wand und erlosch wieder, als sie erschrocken den Finger zurückzog. Wo er den Stein berührt hatte, blieb eine rauchende Linie aus blaßroter Glut zurück.
Kara entschied sich, endgültig die Waffe zu behalten, bis die Gefahr vorüber war.
Sie hörte hastige Schritte, drehte sich herum und erblickte Zen, der durch den Eingang gestürmt kam. Er hatte das Schwert gezogen und sah sehr erschrocken aus. »Kara, was...«
Der Schrecken auf seinen Zügen wandelte sich in Überraschung, als er das Gewehr in Karas Händen entdeckte. Dann fiel sein Blick auf den Toten. Er verzog angewidert das Gesicht, wirkte aber zugleich erleichtert.
»Ich habe das grüne Licht gesehen und dachte, du wärst in einen Hinterhalt geraten«, sagte er.
»Bin ich nicht«, antwortete Kara knapp. »Aber das ist kein Grund, leichtsinnig zu werden. Ich schätze, daß seine Kameraden noch in der Nähe sind. Komm weiter.«
Hintereinander bewegten sie sich tiefer in den Berg hinein.
Die Dunkelheit war nicht so vollkommen, wie Kara im ersten Moment angenommen hatte. Vom Ende des Ganges her drang ein schwacher, rötlicher Lichtschimmer zu ihnen, der ausreichte, ihre Umgebung zumindest schemenhaft zu erkennen.
Sie näherten sich der Quelle des roten Lichts, aber der Stein, über den sie liefen, war noch immer so heiß, daß ihnen jeder Schritt Schmerzen bereitete. Und auch die Wände strahlten eine sengende Hitze aus. Die Luft schmeckte nach verbranntem Fels, und manchmal knackte der Stein, und ein paarmal glaubte sie, ein tiefes, mahlendes Geräusch zu hören, als stöhne der ganze Berg vor Schmerzen. Es war, als bewegten sie sich in einen gewaltigen Backofen hinein.
Vor ihnen lag eine halbrunde Tür aus Metall, die sich in der Hitze verzogen hatte, und dahinter, vom düsteren Rot der Notbeleuchtung in eine moderne Version der Hölle verwandelt, erstreckte sich der riesige Versammlungsraum des Drachenfelsen.
Er war völlig zerstört.
Die Monitore, die die Wände in schier endlosen Reihen bedeckten, waren geborsten und wirkten wie schwarze Augenhöhlen, aus denen Nervenenden aus ausgeglühtem Draht ragten. Die meisten Computerpulte mußten explodiert oder ausgebrannt sein, und alles, was aus dem glatten harten Material bestanden hatte, das Aires ›Kunststoff‹ nannte, war in der Hitze zerlaufen wie Wachs. Die abgehängte Decke war verschwunden, so daß man das Gewirr der Kabel und Versorgungsleitungen sehen konnte, das sich dahinter verbarg. Es gab ungefähr ein Dutzend Tote, die auf dem Boden oder auch über den Pulten zusammengebrochen waren. Ihre verzerrten Gesichter bewiesen Kara, daß sie nicht leicht gestorben waren. Die Luft hier drinnen mußte gekocht haben, dachte sie schaudernd.
Kara bewegte sich unschlüssig durch den riesigen Raum. Sie wagte es nicht, irgend etwas zu berühren - nur Zen nahm auch eines der gläsernen Gewehre an sich. Vorsichtig näherten sie sich der Tür am anderen Ende des Raumes. Wenn der Grundriß dieser Festung dem kleineren Drachenfelsen im Süden glich, dann mußte sich dahinter ein Gang befinden, der in die Mannschaftsquartiere und Versorgungsräume des Berges führte. Aber Kara glaubte nicht, daß es so einfach war. Schließlich hatten Jandhis Urahnen diesen Berg nicht gebaut, sondern sich die von der Natur vorgegebenen Bedingungen nur zunutze gemacht.
Trotzdem fanden sie sich am Anfang erstaunlich gut zurecht. Auch wenn sie in manchen Räumen Dinge sahen, deren Zweck sie nicht einmal zu erraten imstande waren. Kara begriff hingegen sehr bald, was hier vor ein paar Stunden geschehen war. Es war auch nicht besonders schwer. Manche Teile des Labyrinths waren noch immer so heiß, daß es unmöglich war, sie zu betreten.
Was immer sie in der vergangenen Nacht beobachtet hatten - es hatte diesen Berg getroffen und zu einem Grab für alle die gemacht, die sich hinter seinen fünfzig Meter dicken Mauern sicher gefühlt hatten. Nicht einmal die unvorstellbare Explosion, die sie beobachtet hatten, hatte den Berg zerstören können.
»Ob es... eine Waffe der Alten Welt war?« fragte Zen zögernd. Seine Stimme klang belegt, und als Kara sich zu ihm herumdrehte, sah sie, daß er totenbleich war und zitterte. Aber wahrscheinlich sah sie nicht besser aus.
Sie zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Wir wissen ja nicht einmal, ob es überhaupt eine Waffe war. Vielleicht... war es ein Unfall.«
Sie glaubte selbst nicht, was sie sagte. Zen hatte es nicht ausgesprochen, aber sie wußten beide, was er wirklich gemeint hatte. Es war nicht irgendeine Waffe. Er sprach von der Bombe, die diese Welt in einer einzigen Nacht in einen Vorhof der Hölle verwandelt hatte. Aber Kara weigerte sich, es zu glauben. Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte. Von allen Hinterlassenschaften der Alten Welt hatten sie die Nuklearwaffen niemals angerührt. Die Angst vor dem, was geschehen war, war zu tief in den Genen der Handvoll Überlebender verwurzelt gewesen, die sich aus den radioaktiven Trümmern des letzten der zehn Kriege herausgruben. Es durfte nicht sein.
»Ich glaube es nicht«, sagte sie wie etwas, das sie sich nur oft genug einzureden brauchte, um es Wahrheit werden zu lassen. »Komm weiter. Vielleicht...« Sie fuhr sich nervös über das Gesicht, »... finden wir heraus, was hier passiert ist.«
Tiefer und tiefer drangen sie in die steinernen Eingeweide des Berges ein. Der Anblick ihrer toten Feinde erfüllte Kara schon lange nicht mehr mit Zufriedenheit. Sie fanden nichts mehr heraus, aber dafür wurde Kara mit jedem Schritt, den sie tat, mit jeder Tür, die sie öffnete, klarer, wie falsch das Gefühl der Sicherheit gewesen war, in dem sie sich alle in den letzten zehn Jahren gewähnt hatten. Hatten sie sich wirklich eingebildet, Jandhis Drachentöchter besiegt zu haben? Lächerlich. Das vermeintliche Hauptquartier ihrer Feinde, das sie zerstört hatten, war nichts als ein kleiner Außenposten gewesen. Jandhis Drachentöchter hatten nur mit ihnen gespielt.