Ein Gefühl tiefen, ehrlich empfundenen Mitleids ergriff Kara.
Sie verstand jetzt, daß die Feindschaft, die sie gespürt hatte, gar nicht ihrer Person galt. Aires hätte niemanden als Angellas Nachfolgerin akzeptiert. Sie hatte ihr Leben in dem Bewußtsein verbracht, daß all die Macht und der Ruhm, der Einfluß und die Beliebtheit, deren sich Angella erfreute, im Grunde ihr gebührten. Und zugleich in dem sicheren Wissen, daß sie all das niemals bekommen würde. Wieviel Verbitterung und Zorn mußten sich in all diesen Jahren in ihr angesammelt haben?
Sie wollte Aires um ihre Freundschaft bitten, aber sie wußte, daß das verlogen gewesen wäre; bestenfalls leere Worte, die sie beide in Verlegenheit brachten, und so sagte sie nur: »Es tut mir leid, Aires. Ich... wußte das alles nicht.«
»Ich weiß«, antwortete Aires. »Niemand weiß es. Aber ich glaube, es würde auch niemanden interessieren. Und es würde nichts ändern.«
Kara verstand den wirklichen Sinn dieser Worte. »Alles kann so bleiben, wie es war«, fuhr sie fort. »Ich weiß, daß wir niemals wirkliche Freunde werden können, Aires. Aber ich biete dir das an, was dir Angella gegeben hat. Den Platz an meiner Seite. Sei meine Beraterin, meine Lehrerin, wenn du glaubst, daß ich noch eine brauche.« Sie fragte sich ernsthaft, ob es das gleiche Gespräch vielleicht schon einmal gegeben hatte, zwischen Angella und Aires. Vielleicht waren die beiden gar nicht die Freundinnen gewesen, als die alle Welt sie gesehen hatte.
»Und wenn ich ablehne?« fragte Aires.
»Dann muß ich dich bitten zu gehen«, antwortete Kara. Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen, aber sie wußte, daß sie keine andere Wahl hatte. Ob Aires ging oder blieb, es war der einzige Weg, wie sie in ihren Augen bestehen konnte. »Du wirst den Drachenhort verlassen.«
»Nachdem das alles hier vorbei ist«, vermutete Aires.
»Nein, sofort«, sagte Kara. »Ich verlange die Entscheidung nicht jetzt von dir, aber bald. Sehr bald. Und wie immer sie ausfällt, ich werde sie akzeptieren. Du wirst bleiben und meine Beraterin sein, oder du wirst den Drachenhort unverzüglich verlassen und deiner Wege gehen.«
»Ihr braucht mich«, sagte Aires. Sie wirkte verstört.
»Und das sogar dringender, als du selbst ahnst«, bestätigte Kara. »Die Gefahr, der wir uns gegenübersehen, ist unvorstellbar. Ich brauche jede Unterstützung, die ich nur bekommen kann. Aber gerade deshalb kann ich niemanden in meiner Nähe dulden, dessen ich mir nicht sicher bin. Ich meine damit nicht, daß ich deine Loyalität in irgendeiner Form anzweifle, Aires. Aber ich kann und will mir eine Szene wie vor drei Tagen nicht noch einmal leisten.« Sie machte eine Geste auf den Hof hinaus.
»Du hast nicht gesehen, mit wem wir es zu tun haben, Aires. Du weißt vielleicht hundertmal mehr über sie als ich, aber du hast sie nicht gesehen. All unsere Krieger werden vielleicht sterben, Aires. Die meisten davon sind meine Freunde, ich werde sie vielleicht in den sicheren Tod schicken müssen. Wie kann ich das, mit jemandem neben mir, der mich unentwegt an mir zweifeln läßt?«
»Und wenn er recht hat?«
»Ich brauche niemanden, der mir sagt, was ich falsch mache«, beharrte Kara. »Ich brauche jemanden, der mir erklärt, wie ich es richtig machen soll. Wenn du das willst - willkommen. Wenn nicht - geh.«
Aires starrte sie an. Ihre Augen brannten, und die schmalen Hände waren zu Fäusten geballt. Sie zitterte. »Vielleicht habe ich mich doch in dir getäuscht«, sagte sie gepreßt. Aber sie machte keinen Versuch, diese Worte zu erklären, sondern fuhr auf dem Absatz herum, stürmte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Kara sah ihr voller Trauer hinterher. Wäre dies eine erdachte Geschichte gewesen, dachte sie, so wäre dies wohl der Moment, in dem sich die alte Frau und das Mädchen in die Arme fielen und sich der Tatsache versicherten, daß alles nur eine Verkettung von schrecklichen Mißverständnissen und Irrtümern gewesen war. Aber das hier war die Wirklichkeit, und da liefen die Dinge leider nicht immer so glatt. Kara glaubte nicht, daß Aires ihr Angebot annahm. Sie würde in Zukunft ohne die Magierin auskommen müssen.
33
Was vor einer Woche noch die Spitze des Hauptturmes gewesen war, hatte sich in eine gewaltige Schutt- und Trümmerhalde verwandelt, die sowohl den Zugang als auch die untere Reihe der schmalen Fenster blockierte. Zerborstene Balken und scharfkantige Glas- und Metallsplitter ragten aus dem Trümmerberg. Die Erdstöße waren zudem heftig genug gewesen, den Turm nicht nur seiner beiden oberen Stockwerke zu berauben, sondern den stehengebliebenen Rest auch der Länge nach zu spalten. Ein Netz haarfeiner Risse durchzog den Innenhof.
»Und es ist wirklich niemand getötet worden?« fragte Kara zweifelnd.
»Niemand«, bestätigte Cord. »Wir hatten großes Glück. Aber das Beben kam nicht ganz ohne Vorwarnung. Wir hatten Zeit, die Leute aus dem Turm zu bringen.«
Kara sah ihn fragend an.
»Es gab einige leichte Erdstöße, die große Beben ankündigten«, erklärte Cord. »Dieser Turm hat mir schon lange Sorgen bereitet. Er muß schon einmal beschädigt worden sein; lange, bevor wir diese Burg in Besitz nahmen.«
»Aber ein Erdbeben? Hier?« sagte Kara zweifelnd. »So etwas gab es doch noch nie!«
»Nicht seit wir hier sind«, sagte Cord. »Doch zwanzig Jahre sind keine lange Zeit. Nicht für diese Berge.«
Nicht einmal für diese Festung, dachte Kara. Natürlich kannte sie die Geschichte dieser Festung wie alle hier - beziehungsweise kannte sie sie eben nicht. Die Burg war uralt. Sie waren nicht die ersten, die sie erobert und zu ihrem neuen Hauptquartier gemacht hatten. Vor ihnen hatten das Jandhis Drachentöchter getan, und vor ihnen viele, viele andere, von denen niemand mehr wußte. Die Burg war so alt, daß von ihren ursprünglichen Erbauern nicht einmal Legenden zurückgeblieben waren.
Was nichts daran änderte, daß es in all der Zeit nicht die Spur eines Erdbebens gegeben hatte. Der Turm, dessen Trümmer sich zu Karas Füßen ausbreiteten, war fünfzigtausend Jahre alt, und das war eine lange Zeit.
»Du glaubst doch nicht wirklich, daß es ein Zufall ist, oder?« fragte sie.
Cord schwieg.
»Erdbeben. Seen mit vergiftetem Wasser, die aus dem Nichts erscheinen; ein Meer, das nach zweimal hunderttausend Jahren zurückkehrt; Regen, der nicht aufhört zu fallen... das sind keine Zufälle, Cord.«
»Ich weiß, worauf du hinaus willst«, antwortete Cord. »Vielleicht hast du recht. Aber sei vorsichtig. Man darf nie anfangen, zuviel in die Dinge hineinzugeheimnissen. Einen Gegner zu überschätzen kann ebenso verhängnisvoll sein wie ihn zu unterschätzen.«
»Lehrbuch für junge Krieger, Seite elf«, sagte Kara spöttisch.
»Seite zwölf, erster Abschnitt, um genau zu sein.« Auch Cord lächelte, aber sein Blick blieb ernst. »Aber weißt du, warum man Dinge in Lehrbücher schreibt, Kara! Weil sie wahr sind.«
Er sah zum Himmel, um die Zeit am Stand der Sonne abzulesen. »Ich glaube, wir sollten Aires und die anderen nicht zu lange warten lassen.«
Vor allem die anderen, dachte Kara. Nicht Zen, Silvy und Maran, sondern den Rest des Drachenhortes.
Ihre Vermutung vom gestrigen Abend hatte sich als richtig erwiesen: Niemand hier wußte bis jetzt, was sie draußen im Schlund gefunden hatten. Silvy, Zen und Maran waren in ihre Quartiere gebracht worden und standen gewissermaßen unter Hausarrest, und Cord hätte am liebsten auch Kara das Verlassen des Zimmers verboten, aber das hatte er dann doch nicht gewagt, allerdings hatte er dafür gesorgt, daß ihr niemand begegnete. Es hatte eine Weile gedauert, bis Kara das halbe Dutzend Männer aufgefallen war, das sie und Cord diskret abschirmte. Sie lächelte. Als Cord sie fragend ansah, meinte sie:
»Ich dachte gerade daran, daß ich nie richtig verstanden habe, was Angella damit meinte, als sie sich einmal darüber beklagte, daß sie eine Gefangene dessen sei, was sie ist. Ich glaube, jetzt weiß ich es.«