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»Nein«, antwortete Elder. »Aber wir leben so lange, daß es der Sache schon ziemlich nahe kommt. Sehr wenige von uns sterben an Altersschwäche, früher oder später erwischt es jeden - ein Unfall, oder du fliegst mit deinem Schiff zu weit hinaus und kommst nicht zurück... Auch Selbstmord ist eine recht häufige Todesursache. Ein langes Leben ist etwas Wundervolles, aber ich glaube, viele werden es eines Tages überdrüssig. Wenn du alles getan hast, was überhaupt getan werden kann, dann ist der Tod irgendwann vielleicht die letzte wirkliche Herausforderung.« Er schwieg einen Moment, aber dann blickte er in ihr Gesicht und sah, mit welchem Schrecken sie seine Worte erfüllten. »Keine Sorge. Ich denke noch lange nicht daran, mich umzubringen. Nicht, solange es noch Mädchen wie dich gibt.«

»Obwohl ich dir nichts bedeute?«

»Aber wer sagt denn das? Ich sagte nur, daß wir sehr vorsichtig mit Worten wie ›Liebe‹ und ›für immer‹ sind«, antwortete er ernst. Dann lächelte er wieder. »Du warst keine Jungfrau mehr«, sagte er. »Hast du viele Männer vor mir... gekannt?«

»Geht dich das etwas an?« fragte Kara.

»Nein. Aber hast du sie alle unsterblich geliebt?«

Sie wollte wütend werden, aber es gelang ihr nicht. »Nein«, gestand sie nach einer Weile. »Sie waren ganz nett, aber...«

»Siehst du?« Elder beugte sich zur Seite und küßte sie flüchtig. »Und ich finde dich eine ganze Menge mehr als ganz nett. Das ist doch schon ein Fortschritt, oder?«

»Zweihundert Jahre.« Kara seufzte und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Kein Wunder.«

»Was?«

»Daß du so... anders warst als die anderen. Du hattest eine Menge Zeit zum Üben.«

»Das hatte ich«, bestätigte Elder und küßte sie noch einmal und sehr, sehr viel länger.

35

Irgendwann war Kara doch eingeschlafen, und sie erwachte durch ein heftiges Wortgefecht, das in ihren Schlaf drang. Die eine Stimme gehörte Hrhon, die andere erkannte sie nicht auf Anhieb. Sie öffnete die Augen, und im gleichen Moment wußte sie, daß es Aires war. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und stieß dabei Elder fast von der Liege. Aires! Ausgerechnet Aires!

Elder erwachte so übergangslos wie gestern abend und sah sie erschrocken an. »Was ist los?«

»Aires«, antwortete Kara knapp, während sie über ihn hinwegzusteigen versuchte und schon in der gleichen Bewegung nach ihren Kleidern griff. Sie sah hastig zum Fenster. Es war noch dunkel und die Nacht noch lange nicht vorüber. Was zum Teufel wollte Aires?

»Sagtest du nicht, niemand kommt an Hrhon vorbei?« fragte Elder, der sich ebenfalls anzuziehen begann.

»Das gilt nicht für Aires«, antwortete Kara.

Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und die Magierin stürmte herein. Sie blieb verblüfft stehen, als sie Kara und Elder auf der Bettkante erblickte. Dann erschien eine steile Falte zwischen ihren Augen. »Oh«, sagte sie. »Das ging ja ziemlich schnell.«

»Eigentlich nicht«, antwortete Kara. »Du bist zu früh gekommen. Es fing gerade erst an, interessant zu werden.« Ihr Tonfall war dumm und töricht, aber da sie diesen Ton nun einmal angeschlagen hatte, fuhr sie sogar noch grober fort: »Was willst du?«

»Ich habe dich gesucht«, antwortete Aires. »Der Posten, der eigentlich draußen vor der Tür stehen sollte, sagte mir, daß du ihn fortgeschickt hast. Sakara hat nach mir verlangt. Sie hat Nachricht aus Schelfheim. Irgend etwas geht dort vor. Etwas Schlimmes, fürchte ich.«

»Schelfheim?« Kara sprang mit einem Satz auf die Füße. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, sich vollkommen anzuziehen, sondern folgte Aires barfuß und ohne ihren Mantel, als sich die Magierin herumdrehte und aus dem Zimmer stürmte. Auch Elder schloß sich ihnen an. Sehr schnell gingen sie den Gang wieder zurück und die Treppe hinauf zu der Turmkammer, in der sich die Gemächer der Seherin befanden.

Die Tür zu Sakaras Zimmer stand weit offen. Mehr als ein Dutzend Kerzen und zwei schmiedeeiserne Pfannen voller glühender Kohlen tauchten den Raum in ein warmes Licht, sorgten zugleich aber auch dafür, daß die Luft recht stickig war. Wie viele Bewohner des Hortes mochte Sakara den kalten grünen Schein der Leuchtstäbe nicht.

Die Seherin war nicht allein. Cord und Storm waren bei ihr, außerdem ein sehr junges, dunkelhaariges Mädchen, das Kara zum ersten Mal sah. Vielleicht eine neue Schülerin, die Sakara zu Diensten war. In ihren Augen erschien eine Mischung aus Ehrfurcht und Staunen, als sie hintereinander Aires, Kara und den Waga durch die Tür stürmen sah.

»Was ist los?« fragte Aires knapp.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Cord besorgt. »Sie hat nach dir verlangt. Ich habe nur ein paarmal das Wort Schelfheim verstanden.«

Aires eilte um den Tisch herum und beugte sich besorgt über Sakara, und auch Kara blickte die Seherin aufmerksam an.

Sakaras Gesicht hatte jenen matten Ausdruck angenommen, der ihr sagte, daß sie schon fast in Trance versunken war, um Kontakt mit ihrer Partnerin in Schelfheim aufzunehmen. Ihre Augen standen weit offen. Sie blinzelte nicht einmal.

Aires berührte sie sanft an der Schulter und flüsterte ihren Namen. Sakara reagierte nicht, aber Aires schien einen Moment mit geschlossenen Augen in sie hineinzulauschen. »Sie kommt nicht durch«, murmelte sie. »Irgend etwas... stimmt nicht. Angst. Ich spüre Angst. Und großen Schmerz.«

»Bei ihr?« fragte Kara.

»Nein. Auf der anderen Seite. Wir müssen ihr helfen.« Sie hob die Hand und deutete auf das Mädchen, das neben dem Tisch stand und abwechselnd sie und Sakara aus schreckgeweiteten Augen ansah. »Du. Geh hinaus. Und schließ die Tür hinter dir.«

Das Mädchen entfernte sich, und Aires streckte fordernd die Hand aus. Nach kurzem Zögern legte Kara ihre Hand in die der Magierin. Aires' Griff war so fest, daß es weh tat, aber Kara wagte es nicht, die Hand zurückzuziehen. Sie unterdrückte tapfer jeden Schmerzlaut, während Aires die andere Hand ausstreckte, sie auf Sakaras Schulter legte und die Augen schloß.

Kara wartete darauf, daß irgend etwas geschah, aber sie wurde enttäuscht. Sie fühlte nichts außer dem pochenden Schmerz, den ihr Aires' harter Händedruck zufügte. Und trotzdem tat die Magierin etwas. Auf eine geheimnisvolle Weise schien sie Kara Kraft zu entziehen und sie mit ihrer eigenen zu verbinden, um sie der Seherin zu spenden.

Minuten vergingen, dann begannen Sakaras Lippen plötzlich zu zittern. Ihre Augenlider flatterten, fielen zu, und ein Ausdruck unheimlicher Qualen vertrieb die Schlaffheit ihrer Züge.

Unartikulierte Laute drangen über ihre Lippen.

Kara schaute Elder an. Er wirkte verwirrt, aber sie sah auch eine Angst in seinen Augen, die sie im ersten Moment nicht verstand, bis sie sich daran erinnerte, mit welch instinktiver Furcht und Abneigung umgekehrt sie der Anblick seiner Welt erfüllt hatte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Kara signalisierte ihm mit einem erschrockenen Blick, still zu sein.

Elder verstand und schwieg.

Aus Sakaras gestammelten Lauten wurde ein Stöhnen. Sie begann zu wimmern, zitterte immer stärker und sank langsam nach vorn. »Feuer«, murmelte sie. »Ich sehe... Feuer. So viele Flammen.«

»Schelfheim?« fragte Aires. »Ist es Schelfheim, das brennt?«

»Flammen«, keuchte Sakara. »Die Hitze und der Rauch. Die ganze Stadt... sie brennt.« Sie hustete gequält, als spüre sie tatsächlich den beißenden Qualm, der ihre Partnerin in der Küstenstadt quälte. Kara wußte, daß Seher mehr austauschten als Bilder.

»Was siehst du, Sakara?« fragte Aires. »Was geschieht in Schelfheim? Werden sie angegriffen?«

»Flammen«, sagte Sakara noch einmal. »Überall ist Feuer, auch am Himmel. Es sind so viele. Sie brennen alles nieder... Die... die Garde versucht sie aufzuhalten, aber sie können nichts dagegen tun. Die... die Flieger fallen wie Motten vom Himmel. Grünes Feuer.«