Mit einem erschöpften Laut sank Kara vollends in sich zusammen und blieb einige Augenblicke lang liegen. Schwäche übermannte sie wie eine lähmende Woge, und für Sekunden mußte sie mit aller Macht darum kämpfen, wach zu bleiben.
Sie würde sterben, wenn sie das Bewußtsein verlor. Das Haus brannte, und wenn nicht das Feuer, so würde der Rauch sie umbringen. Mühsam stemmte sie sich wieder in die Höhe.
Sie war nicht mehr allein, als sie sich herumdrehte. Eine Gestalt in schwarzem Leder und Silber kniete neben dem Toten.
Als sie den Kopf hoch und Kara anblickte, erkannte sie, daß es Zen war.
»Kara!« sagte er erschrocken. »Bist du in Ordnung?«
Sie nickte müde, fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht und bückte sich nach ihrer Waffe. »Ist er tot?« fragte sie, während sie das Schwert wieder in ihren Gürtel schob.
»So tot, wie man nur tot sein kann«, antwortete Zen. »Das war ganze Arbeit.«
»Verdammter Mist«, sagte Kara. »Ich wollte ihn lebend!«
Ein Gefühl heftiger Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus, als sie an Zen vorbeiging und den Toten ansah. Er hatte sich nicht nur das Genick gebrochen. Sein Kopf war so unglücklich auf der steinernen Treppe aufgeschlagen, daß er regelrecht auseinandergeplatzt war. Sie sah rasch weg.
»Er hätte uns sowieso nichts verraten«, sagte Zen. »Ich glaube nicht, daß sie...« Er sog scharf die Luft ein. »Kara! Sieh dir das an!«
Doch Kara blickte starr in die entgegengesetzte Richtung.
»Ich weiß, wie ein Gehirn aussieht«, sagte sie, während sie mit einem Brechreiz kämpfte. »Ich habe schon mal eines gesehen.«
»So eines bestimmt noch nicht«, antwortete Zen leise.
Kara wandte sich alarmiert zu ihm um. Ihr Magen rebellierte, und ihr Mund füllte sich schneller mit bitterem Speichel, als sie ihn herunterschlucken konnte. Doch was sie sah, ließ sie schlagartig ihre Übelkeit vergessen.
Sie hatte tatsächlich noch nie zuvor so ein Gehirn gesehen.
Wenn es überhaupt ein Gehirn war. Sie entdeckte sehr viel Blut, zerrissene Gewebe und glitzernde Flüssigkeit, aber sie sah auch Metall und ein winziges, blaßblau leuchtendes Etwas und blutverschmiertes... Glas?
»Großer Gott - was ist das?« flüsterte sie.
Zen streckte zögernd die Hand aus, wagte aber nicht, das Ding zu berühren.
Es ist tatsächlich Glas, dachte Kara fassungslos. Sie bemerkte winzige Drähte und Spulen, die kleiner als ein Stecknadelkopf waren, aber darüber spannte sich eine durchsichtige Kapsel, deren Oberflächenstruktur der eines menschlichen Gehirns entsprach.
Zen starrte sie an. Sein Gesicht war grau vor Entsetzen. Er sagte nichts.
»Wir... müssen das... Aires zeigen«, flüsterte Kara stockend. Es fiel ihr schwer zu reden. Nahm der Schrecken denn gar kein Ende mehr?
»Aber ich... kann es nicht. Glaubst du, daß du...«
Zens Haut färbte sich von Grau zu Grün. Er schluckte ein paarmal krampfhaft, aber er nickte und zog den Dolch aus dem Gürtel. Und Kara fuhr herum und stürzte aus dem Haus, um sich zu übergeben.
Der Sonnenaufgang begann hier unten eine Stunde später, weil die Kontinentalklippe, die Schelfheim überragte, den Horizont verdeckte. So erlebte Kara die Dämmerung an diesem Morgen zweimal, und im ersten Licht des neuen Tages erkannte sie auch, wo sie war und wieso ihr dieser Ort so vertraut vorkam: Der gewaltige Krater, an dessen Rand die Libellen niedergegangen waren, war derselbe, in den Kara und Elder damals hinabgestiegen und das erste Mal auf die Männer in den blauen Uniformen gestoßen waren. Sie fragte sich, was sie hier gemacht hatten, wo ihnen doch der um vieles sicherere Weg über das unterirdische Meer zur Verfügung stand. Selbst wenn Schelfheims Machthaber dort unten eine Truppe stationiert hatten - hier oben hatten sie es mit der gesamten Stadtgarde zu tun gehabt. Aber vielleicht, dachte Kara, hatten sie ganz genau das gewollt.
Während sie im Haus gewesen war, hatten sich fünf oder sechs Drachen auf den Häusern ringsum niedergelassen. Ihre Reiter waren abgestiegen und durchsuchten die umliegenden Häuser nach versprengten Blauuniformierten. Der Rest ihrer kleinen Streitmacht kreiste weiter über ihnen. Kara machte sich jedoch keine Hoffnungen. Irgendwie war sie sicher, daß dieser Mann der letzte gewesen war, der sich hier aufgehalten hatte.
Wenn man von dem Knistern der Flammen und einem gelegentlichen Grollen der Drachen absah, war es fast unheimlich still. Kara hatte erwartet, daß die Bewohner der umliegenden Häuser sich nun, da die Angreifer vertrieben waren, wieder aus ihren Verstecken hervorwagen würden, aber niemand zeigte sich. Entweder sie waren alle tot, dachte Kara erschrocken, oder die Drachen erschreckten sie ebenso wie die Libellen. Die Stille wurde noch bedrückender, als die Sonne ganz aufging und die Schatten vollends vertrieb. Dann und wann hörte sie das Poltern eines Steins; der Wind, der sich beständig drehte, trug manchmal ein Stöhnen oder unverständliche Stimmen herbei, aber niemand kam, um in den Ruinen nach Überlebenden oder Verletzten zu suchen oder die Brände zu löschen. Kara hatte plötzlich das Gefühl, daß sie zu spät gekommen waren und eine tote Stadt aus dem Griff der Blauuniformierten befreit hatten.
Sie hätte zumindest ein paar Neugierige erwartet, die irgendwann aus den Ruinen rings um den Krater hervorkrochen.
Von einer plötzlichen, bösen Vorahnung erfüllt, wandte sich Kara um und ging zu einem halb zusammengestürzten, aber nicht in Brand stehenden Gebäude hinüber. Sie mußte durch ein Fenster hineinklettern, denn das abgebrochene Rotorblatt einer Libellenmaschine versperrte die Tür. Es war wie ein Speer ins Holz gefahren und nagelte sie so fest ans Mauerwerk, daß alles Rütteln und Zerren nichts nutzte.
Der Raum, in den sie gelangte, war fast unversehrt.
Seine Bewohner nicht.
Kara fand auf Anhieb drei Tote. Die Menschen waren nicht erschossen worden oder verbrannt, sondern Opfer einer Waffe geworden, die sie offensichtlich alle im gleichen Augenblick niedergestreckt hatte. Sie drehte einen der reglosen Körper herum und stellte fest, daß er sich vollkommen falsch bewegte; wie ein Sack voller nasser Erde. Als hätte er keine Knochen mehr oder als wären sie allesamt in winzige Stückchen zerbrochen. Dann stellte Kara fest, daß nichts, was aus Glas, Steingut oder Porzellan bestanden hatte, heil geblieben war. Unter ihren Sohlen knirschte ein Teppich aus feingemahlenen Splittern.
Sie untersuchte ein zweites und drittes Haus und machte überall die gleiche Entdeckung. Hier und da hatte es gebrannt, und einige der Toten, die sie sah, zeigten Spuren des furchtbaren grünen Lichts oder waren von herabstürzenden Trümmerstücken erschlagen worden, aber allmählich fügte sich das Bild zusammen: Die Angreifer mochten sich überall in der Stadt einen Spaß daraus gemacht haben, ein Scheibenschießen auf Häuser oder auch Menschen zu veranstalten, doch zuvor hatten sie mit einem einzigen gezielten Schlag dafür gesorgt, daß sie in aller Ruhe tun konnten, weshalb auch immer sie hergekommen waren.
Als Kara das letzte Haus auf dieser Seite des Kraters verließ, bemerkte sie eine Bewegung. Einer der Drachen wandte knurrend den Schädel und äugte mißtrauisch auf eine Prozession winzig kleiner Gestalten herab, die neben ihm die Straße entlangkam. Kara erkannte die glitzernden Panzer von Hornköpfen, dahinter das schreiende Gelb der Garde. Die beiden riesigen Kampfinsekten an der Spitze der Gruppe kamen ihr vage bekannt vor, und im gleichen Moment begriff sie, wer die Männer in ihrer Begleitung waren. Sie seufzte lautlos, drehte sich aber herum und ging ihnen in raschem Tempo entgegen.
Trotzdem war sie nicht die erste, die die Gruppe erreichte.
Zwei Drachenkämpfer kamen ihr zuvor. Der eine beruhigte mit Gesten und Worten den Drachen, der noch immer nervös knurrte - die Abneigung zwischen Hornköpfen und Drachen war so alt wie diese beiden Völker selbst -, der andere versuchte offensichtlich, mit den Männern in den gelben Mänteln zu reden, hatte aber wenig Erfolg dabei: Die beiden Hornköpfe ließen ihn nicht in Ruhe gewähren.