Sie wußte selbst, wie kümmerlich dieses Angebot war. Sie waren kaum siebzig Männer und Frauen in einer Stadt, die an hundert Stellen brannte und in der es möglicherweise hunderttausend Verwundete gab. Gendiks Lächeln machte ihr klar, daß seine Überlegungen wohl in dieselbe Richtung gingen. »Das wird kaum nötig sein«, sagte er. »Ihr habt uns schon zur Genüge geholfen. Wißt ihr schon, wo ihr eure Tiere unterbringen werdet?«
Seine Frage überraschte Kara. Der Gedanke, hierzubleiben, war ihr bisher nicht einmal gekommen. Mit einem Schulterzucken deutete sie in die Runde. »Dieser Platz ist so gut wie jeder andere. Hier lebt ohnehin niemand mehr, und...«
»Ich fürchte, das wir nicht gehen«, unterbrach sie Gendik sanft, aber nachdrücklich.
»Wieso?«
»Deine Krieger unterzubringen ist kein Problem. Aber die Drachen können nicht hierbleiben. Du hast es selbst gesagt: Sie hassen die Hornköpfe. Doch Schelfheim ist voll von Hornköpfen. Außerdem würde ihre Anwesenheit die Leute hier verängstigen.«
»Und ich dachte, sie würde sie beruhigen«, sagte Kara spöttisch.
»Für den Moment vielleicht«, räumte Gendik ein. »Aber sie haben Angst vor ihnen. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist etwas, das die Angst der Leute noch schürt.« Er überlegte einen Moment. »Es gibt eine Festung oben am Rand der Klippe«, sagte er dann. »Dort ist Platz genug für eure Tiere. Ich schlage vor, du bringst sie und deine Krieger dorthin und kehrst dann zurück. Ich werde inzwischen versuchen, meine Berater zusammenzurufen. Und das, was von unserer glorreichen Armee noch übrig ist. Wäre es dir recht, wenn ich dir gegen die Mittagsstunde einen Wagen schicke, der dich abholt?«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Gendik«, erwiderte Kara, so freundlich sie konnte. »Ich kann nicht bleiben. Sobald alle meine Krieger zurück sind, werden wir zum Hort zurückkehren. Natürlich lasse ich Euch eine ausreichende Zahl von Drachen und Männern hier, die für den Schutz Schelfheims garantieren.«
»Du willst fort?« fragte Gendik irritiert. »Aber wir...«
»Müssen uns beraten, sicher«, unterbrach ihn Kara. »Aber gibt es einen besseren Ort dafür als den Drachenhort? Wir erwarten Euch und Eure Berater in drei Tagen dort.« Sie gestattete sich den Luxus, sich einen Moment an seiner Verblüffung und dem allmählich aufkeimenden Zorn in seinem Blick zu weiden, als er begriff, daß dieser als Einladung getarnte Befehl einen dreitägigen, mörderischen Ritt für ihn bedeutete, dann wandte sie sich mit einer ruckhaften Bewegung zum Gehen, hielt aber noch einmal inne.
»Ich denke, es ist wirklich besser, wenn die Drachen genau hier bleiben, Gendik. Die Angreifer haben hier irgend etwas gesucht, und es würde mich nicht wundern, wenn sie zurückkommen. Bitte sorgt dafür, daß für die Drachen ausreichend Futter bereitsteht. Sie werden leicht nervös, wenn sie hungrig sind. Und noch etwas: Kennt Ihr einen jungen Ingenieur namens Donay?«
»Nein«, antwortete Gendik. »Aber ich kann ihn suchen lassen. Falls er noch lebt.«
»Tut das«, sagte Kara. »Ich möchte, daß er mich begleitet.«
Sie ging weiter und ließ Gendik einfach stehen.
Es dauerte noch zwei Stunden, bis die letzten Drachen aus dem Schlund zurück waren. Sie hatten Karas Befehl befolgt und die Libellen beinahe zweihundert Meilen weit verfolgt, sie aber nicht angegriffen. Wenig später brachten zwei von Gendiks Soldaten einen total verstörten, aber unverletzten Donay zu ihr. Bevor Kara zum Drachenhort aufbrach, suchte sie zehn der besten und erfahrensten Krieger samt ihrer Tiere aus, die in der Stadt zurückblieben. Sie sah keinen von ihnen lebend wieder.
37
»In seinem Kopf?«
Aires drehte das gläserne Etwas, das sie aus dem Schädel des Toten herausgeschnitten hatten, in den Händen. Ihre Stimme war schrill gewesen vor Unglaube, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein leichter Ekel. Gesäubert und aus dem Rest des Gehirnes herausgelöst, wirkte das gläserne Ding aus lebendigem Gewebe und blinkendem Metall noch unheimlicher.
Zen hob den Arm und legte die gespreizten Finger auf die Stelle, wo das Gebilde im Schädel des Toten gesessen hatte. »Es hing fest. Ich mußte es herausschneiden.«
»Das ist unglaublich«, murmelte Aires. Behutsam legte sie das unheimliche gläserne Gebilde vor sich auf den Tisch, betrachtete es noch einen Moment eingehend und schüttelte den Kopf. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich habe nicht die mindeste Ahnung, was es sein kann.«
»Wir sollten Elder fragen«, schlug Kara vor. »Vielleicht weiß er, was es ist.«
Bei der Erwähnung von Elders Namen blitzte es in Aires' Augen auf. Aber dann nickte sie nur und wandte sich an Cord, der nahe der Tür stand. »Bitte geh und hol ihn her.«
Sie wartete, bis Cord das Zimmer verlassen hatte, dann drehte sie sich wieder zu Kara und Zen um, die nebeneinander auf der anderen Seite des Tisches saßen. »Hatte nur dieser eine so etwas im Kopf oder die anderen auch?«
Kara und Zen sahen sich eine Sekunde lang betroffen an und schwiegen.
Aires seufzte. »Ich verstehe. Ihr habt nicht nachgesehen.«
»Nein«, gestand Kara kleinlaut. »Um... um ehrlich zu sein, ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen.«
Aires seufzte erneut, winkte dann aber ab. »Wahrscheinlich ist es nicht so wichtig«, sagte sie und schaute nacheinander die anderen an. Ihre Runde war beträchtlich gewachsen, so daß sie sich in dem großen Versammlungsraum im Erdgeschoß des Haupthauses zusammengefunden hatten. Kara gefiel das zwar nicht, aber sie sah ein, daß es keinen Sinn mehr hatte, irgend etwas geheimhalten zu wollen. Außerdem hatte Aires sie vor vollendete Tatsachen gestellt, indem sie sie, Zen und Donay auf der Stelle hatte hierherbringen lassen, kaum daß sie gelandet waren und Zeit gefunden hatten, aus den Sätteln zu steigen.
»Vielleicht ist es eine Art... Prothese?« murmelte Donay. Er war noch immer ein wenig blaß. Der ungewohnte Ritt auf dem Rücken des Drachen saß ihm noch in den Knochen. Aires sah ihn zweifelnd an, und Donay fuhr in beinahe verlegenem Tonfall fort: »Ich meine... diese Menschen der Alten Welt sollen sogar künstliche Gliedmaßen gehabt haben. Möglicherweise hatte er einen Unfall...«
Aires seufzte. »Eine Prothese! Also... ich kenne eine Menge Leute, denen ein Stück des Gehirns zu fehlen scheint, aber das erscheint mir dann doch sehr unwahrscheinlich.«
Zaghaftes Gelächter antwortete auf ihre Worte und verstummte sofort wieder, als Aires die Hand hob. »Genug. Wir warten auf Elder. Doch es gibt noch anderes zu besprechen. Donay - du bist der einzige hier, der dabei war. Erzähle.«
Donay zögerte. »Da... gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte er schließlich. »Ich muß gestehen, ich... habe die meiste Zeit in einem Keller verbracht. Ich hatte Angst.«
»Das ist verständlich. Und war im übrigen auch sehr klug gehandelt. Aber du hast gesehen, wie es begonnen hat.«
»Ja«, sagte Donay. »Ich war auf dem Weg zurück zum Schacht.« Er sah flüchtig Kara an. »Dem Krater, an dessen Rand sie gelandet sind.«
»Warum?«
»Ich fahre seit zwei Wochen jeden Tag hinunter«, antwortete Donay, »Sie haben eine Seilbahn eingerichtet.«
»Ich dachte, du bist Biologe«, sagte Zen. »Seit wann interessieren dich alte Steine?«
»Der Hochweg stirbt noch immer«, erwiderte Donay ernst. »Ich war einmal ganz unten. Der Wasserspiegel fällt weiter - nicht sehr schnell, aber er fällt. Wenn wir keinen anderen Weg finden, die Wurzeln mit Wasser zu versorgen, ist die Brücke in einem Jahr tot.«
Betretenes Schweigen breitete sich aus, und Kara fragte sich erneut, ob es wirklich klug von Aires gewesen war, allen die Wahrheit zu erzählen. Daß sie anfingen, sich zu wehren, war in Ordnung; aber der Gedanke an einen zu übermächtigen Gegner konnte auch lähmen.