«Jon«, befahl Lord Mormont,»reite zurück und sag die Neuigkeit in der Kolonne weiter. Und erinnere die Offiziere daran, daß ich keinen Ärger wegen Crasters Frauen wünsche. Die Männer sollen ihre Hände bei sich behalten und so wenig wie möglich mit diesen Weibern reden.«
«Jawohl, Mylord. «Jon wendete sein Pferd. Immerhin prasselte ihm nun der Regen nicht mehr ins Gesicht, wenn auch nur für kurze Zeit. Jeder, den er passierte, sah aus, als würde er weinen. Die Reihe erstreckte sich über eine halbe Meile des Waldes.
In der Mitte des Gepäckzuges traf er auf Samwell Tarly, der unter seinem breiten Schlapphut im Sattel zusammengesunken war. Er ritt auf einem der Packtiere und führte die anderen an den Zügeln. Weil der Regen ständig auf die Abdeckung der Käfige trommelte, flatterten die Raben wild und kreischten.»Hast du einen Fuchs zu ihnen gesperrt?«rief Jon ihm zu.
Das Wasser lief von der Hutkrempe, als Sam den Kopf hob.»Oh, hallo, Jon. Nein, sie hassen nur den Regen genauso wie wir.«
«Wie geht's dir, Sam?«
«Naß. «Der fette Junge lächelte.»Bisher hat mich wenigstens noch nichts getötet.«
«Gut. Vor uns liegt Crasters Bergfried. Wenn die Götter uns wohlgesonnen sind, wird er uns an seinem Feuer schlafen lassen.«
Sam machte ein mißtrauisches Gesicht.»Der Schwermütige Edd sagt, Craster sei ein Wilder. Er heiratet seine eigenen Töchter und gehorcht nur seinen eigenen Gesetzen. Und Dywen hat Grenn erzählt, er habe schwarzes Blut in den Adern. Seine Mutter war eine Wildlingsfrau, die mit einem Grenzer geschlafen hat, und daher sei er ein Bas — «Plötzlich dämmerte ihm, was er gerade aussprechen wollte.
«Ein Bastard«, ergänzte Jon lachend.»Nur raus damit, Sam. Das Wort habe ich schon einmal gehört. «Er gab seinem kleinen trittsicheren Pferd die Sporen.»Ich muß Ser Ottyn erwischen. Und paß auf, wenn dir eine von Crasters Frauen über den Weg läuft. «Nun ja, diese Warnung brauchte Samwell Tarly vermutlich nicht.»Wir unterhalten uns später, nachdem wir das Lager aufgeschlagen haben.«
Jon gab die Neuigkeit noch an Ser Ottyn Wythers weiter, der die Nachhut anführte. Er war ein kleiner Mann im Alter von Mormont und sah ständig müde aus, selbst auf Castle Black. Der Regen setzte ihm besonders unbarmherzig zu.»Eine willkommene Abwechslung«, sagte er.»Diese Nässe weicht schon meine Knochen auf, und sogar meine Schwielen am
Hintern haben sich neu wund gerieben.«
Auf dem Rückweg umging Jon die Kolonne in weitem Bogen und suchte sich eine Abkürzung durch das Dickicht. Die Geräusche von Mensch und Tier blieben hinter ihm zurück und wurden von der nassen Wildnis verschluckt, und bald hörte er nur mehr das Trommeln des Regens auf Laub und Steinen. Obwohl es erst Nachmittag war, wirkte der Wald so düster wie in der Dämmerung. Jon suchte sich einen Pfad zwischen Felsen und Pfützen hindurch, an großen Eichen, graugrünen Wachbäumen und Eisenholzbäumen mit schwarzer Rinde vorbei. Dort, wo die Äste über ihm ein dichtes Blätterdach bildeten, durfte er sich über einen Augenblick der Ruhe vor dem Prasseln von oben freuen. Als er an einer vom Blitz getroffenen Kastanie vorbeiritt, die von weißen Wildrosen überwuchert war, hörte er etwas im Unterholz rascheln.»Ghost!«rief er,»Ghost, zu mir.«
Aber es war Dywen, der auf seinem grauen zotteligen Pferd aus dem Dickicht kam, Grenn an seiner Seite. Der Alte Bär hatte sie als Flankenschutz ausgeschickt, damit sie die Kolonne vor möglichen Feinden warnen könnten.
«Ach, du bist es, Lord Snow. «Dywen lächelte und zeigte sein aus Holz geschnitztes Gebiß, das nur schlecht in seinen Mund paßte.»Dachte schon, ich und der Junge hätten es mit einem von den Anderen zu tun. Ist dir dein Wolf abhanden gekommen?«
«Er ist auf der Jagd. «Ghost lief ungern in der Kolonne mit, aber er würde sich nicht weit entfernen. Wenn sie das Lager für die Nacht aufschlugen, würde er den Weg zu Jon finden.
«Bei dieser Nässe möchte man es eher Fischen nennen«, erwiderte Dywen.
«Meine Mutter hat immer gesagt, Regen sei gut für die Ernte«, warf Grenn ein.
«Schimmel kannst du bestimmt ernten«, antwortete Dywen.
«Immerhin, ein Gutes hat dieser Regen: Wir brauchen nicht zu baden. «Er klackte mit den Zähnen.
«Buckwell hat Craster gefunden«, erzählte Jon ihnen.
«Hatte er ihn verloren?«Dywen kicherte.»Ihr jungen Kerle solltet euch von Crasters Weibern fernhalten, habt ihr gehört?«
Jon lächelte.»Willst du sie alle für dich, Dywen?«
Dywen klackte erneut mit den Zähnen.»Könnte schon sein. Craster hat zehn Finger und einen Pimmel, darum kann er höchstens bis elf zählen. Wenn zwei fehlen, würde er's wohl kaum bemerken.«
«Wie viele Frauen hat er eigentlich?«wollte Grenn wissen.
«Mehr als du jemals bekommen wirst, Bruder. Nun, ist ja auch nicht so schwierig, wenn du sie dir selbst zeugst. Da ist dein Vieh, Snow.«
Ghost trabte neben Jons Pferd her und hielt den Schwanz steif in die Höhe. Das weiße Fell hatte er zum Schutz vor dem Regen gesträubt. Er bewegte sich so leise, daß Jon nicht hätte sagen können, wann er aufgetaucht war. Grenns Reittier scheute bei seinem Geruch; selbst jetzt noch, nach einem Jahr, fühlten sich die Pferde in der Gegenwart des Schattenwolfs unbehaglich.»Komm mit, Ghost. «Jon ritt in Richtung von Crasters Bergfried los.
Er hatte niemals geglaubt, so weit jenseits der Mauer eine steinerne Burg zu finden, sondern hatte sich eine Art Erdwall mit Holzpalisaden vorgestellt und dazu einen Bergfried aus Baumstämmen. Was ihn statt dessen erwartete, waren ein Misthaufen, ein Schweinestall, ein leeres Schafgatter und eine fensterlose Halle aus Lehmmauern, die diesen Namen kaum verdiente. Sie war lang, niedrig und mit Grassoden gedeckt. Der Hof stand auf einer Erhebung, die zu unbedeutend war, um sie als Hügel zu bezeichnen, und wurde von einem Erdwall umfaßt. Braune Rinnsale flossen die Schrägen hinunter, wo der Regen klaffende Löcher in die Verteidigungsanlage gefressen hatte, und mündeten in einen rauschenden Bach, der sich nach Norden wand und dessen Wasser sich durch das Unwetter in einen schmutzig-trüben Strom verwandelt hatte.
Im Südwesten entdeckte er ein offenes Tor, das von zwei Tierschädeln auf hohen Pfählen flankiert wurde: ein Bär auf der einen Seite, ein Widder auf der anderen. An dem Bärenschädel hingen immer noch Fleischfetzen, bemerkte Jon, während er sich wieder zur Kolonne gesellte und durch das Tor ritt. Im Innern des Erdwalls pflockten Jarmen Buckwells Männer bereits die Pferde in langen Reihen an und mühten sich ab, die Zelte aufzubauen. Ein Heer Ferkel drängte sich im Schweinestall um drei riesige Säue. Daneben zog ein kleines, nacktes Mädchen Karotten aus einem Beet, während zwei Frauen ein Schwein zum Schlachten fesselten. Das Kreischen des verängstigten Tieres klang schrill und entsetzlich, fast menschlich. Chetts Hunde bellten und knurrten trotz seiner Flüche zur Antwort darauf, und Crasters Hunde bellten zurück. Als sie Ghost sahen, liefen einige davon, während andere böse knurrten. Der Schattenwolf beachtete sie nicht.
Nun, dreißig von uns werden es trocken und warm haben, dachte Jon, nachdem er die Halle genauer betrachtet hatte. Vielleicht sogar fünfzig. Das Gebäude war viel zu klein für zweihundert Männer, daher würden die meisten draußen bleiben müssen. Und wo sollten sie lagern? Der Regen hatte den halben Hof in knöcheltiefe Pfützen verwandelt und den Rest in Schlamm. Blieb nur die Aussicht auf eine weitere unangenehme Nacht.