Der Lord Commander hatte sein Pferd dem Schwermütigen Edd anvertraut. Dieser reinigte gerade die Hufe des Tieres vom Schlamm, als Jon abstieg.»Lord Mormont ist in der Halle«, verkündete Edd.»Er sagt, du sollst zu ihm kommen. Laß den Wolf lieber draußen, er sieht so hungrig aus und würde vielleicht eins von Crasters Kindern fressen. Um bei der Wahrheit zu bleiben, würde ich das gleiche tun, wenn man es mir nur warm serviert. Geh schon, ich kümmere mich um dein Pferd. Sollte es drinnen warm und trocken sein, erzähl's mir nicht. Mich hat man nicht hineingebeten. «Er entfernte einen nassen Klumpen Erde aus einem Huf.»Sieht aus wie Scheiße, findest du nicht auch? Könnte Craster den ganzen Hügel vielleicht selbst aufgehäuft haben?«
Jon lächelte.»Na ja, ich habe gehört, er würde hier schon sehr lange wohnen.«
«Das finde ich gar nicht lustig. Geh zum Alten Bären.«
«Ghost, bleib hier«, befahl Jon. Die Tür zu Crasters Bergfried bestand aus zwei Hirschhäuten. Jon schob sie zur Seite und bückte sich unter dem niedrigen Türsturz hindurch. Zwei Dutzend Obergrenzer waren vor ihm eingetreten und standen um die Feuergrube in der Mitte, während sich um ihre Stiefel Lachen bildeten. Die Halle stank nach Ruß, Mist und nassen Hunden. Die Luft war voller Rauch und trotzdem feucht. Durch das Abzugsloch in der Decke tropfte Regen herein. Das Gebäude hatte nur diesen einen Raum, der erhöhte Schlafboden war über zwei grob gezimmerte Leitern zu erreichen.
Jon erinnerte sich daran, wie er sich an dem Tag gefühlt hatte, als sie von der Mauer aufbrachen: nervös wie eine Jungfrau, und dennoch neugierig auf die Geheimnisse und Wunder jenseits jeden neuen Horizonts. Hier haben wir eines dieser Wunder, sagte er sich und blickte sich in der übelriechenden armseligen Halle um. Seine Augen tränten wegen des beißenden Rauchs. Zu schade, daß Pyp und Toad das verpassen.
Craster saß oberhalb des Feuers; als einziger hatte er einen Stuhl. Sogar Lord Commander Mormont mußte mit einer einfachen Bank vorliebnehmen. Sein Rabe hockte murmelnd auf seiner Schulter. Jarmen Buckwell stand hinter ihm, sein Kettenhemd und sein glänzendes nasses Leder tropften noch, und neben ihm stand Thoren Smallwood in Ser Jaremys schwerem Brustpanzer und mit Zobel besetztem Mantel.
Crasters einfaches Schaffellwams und der Mantel aus Tierfellen boten dazu einen deutlichen Kontrast, aber um eins der dicken Handgelenke trug er einen Reif, der golden glitzerte. Er machte den Eindruck eines kräftigen Mannes, obwohl er längst im Winter seines Lebens angelangt war, was seine grauweiße Mähne verriet. Die flache Nase und die heruntergezogenen Mundwinkel verliehen ihm etwas Grausames, und eines seiner Ohren fehlte. Das ist also ein Wildling. Jon erinnerte sich an Old Nans Geschichten, denen zufolge dieses wilde Volk Blut aus menschlichen Schädeln trank. Craster dagegen trank dünnes gelbes Bier aus einem angeschlagenen Becher. Vielleicht hatte er die Geschichten nie gehört.
«Benjen Stark habe ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen«, erklärte er Mormont gerade.»Und um bei der Wahrheit zu bleiben, habe ich ihn auch nicht vermißt. «Ein halbes Dutzend Welpen sowie ein oder zwei Schweine schlichen zwischen den Bänken herum, derweil Frauen in zerschlissenen Hirschhäuten Hörner mit Bier austeilten, das Feuer schürten und Karotten und Zwiebeln in einen Kessel schnitten.
«Er hätte letztes Jahr hier vorbeikommen müssen«, sagte Thoren Smallwood. Ein Hund schnüffelte an seinem Bein. Der Grenzer trat nach ihm, und das Tier ergriff fiepend die Flucht.
Lord Mormont erklärte:»Ben war auf der Suche nach Ser Waymar Royce, der zusammen mit Gared und dem jungen Will verschwunden ist.«
«Ja, an die drei kann ich mich erinnern. Der Lord war kaum älter als meine Welpen. In seinem Zobelmantel und seinem schwarzen Stahl war er zu stolz, unter meinem Dach zu schlafen. Meine Frauen haben ihn trotzdem mit großen Kuhaugen angeglotzt. «Er starrte eine von ihnen an.»Gared hat gesagt, sie würden Banditen jagen. Ich habe ihm gesagt, mit einem so grünen Kommandanten wär's besser, wenn sie die Kerle nicht erwischen. Gared war für eine Krähe gar nicht so übel. Hatte noch weniger Ohren als ich. Beide durch den Frost verloren. «Craster lachte.»Jetzt höre ich, den Kopf ist er ebenfalls los. Auch vom Frost?«
Jon erinnerte sich an rotes Blut, das auf weißen Schnee spritzte, und daran, wie Theon Greyjoy den Kopf des Toten mit dem Fuß von sich gestoßen hatte. Der Mann war ein Deserteur. Auf dem Weg zurück nach Winterfell waren Jon und Robb um die Wette geritten und hatten die Schattenwolfwelpen im Schnee gefunden. Vor tausend Jahren.
«Wann hat Euch Ser Waymar verlassen, und wo wollte er hin?«
Craster zuckte mit den Schultern.»Na, ich habe Besseres zu tun, als mich um das Kommen und Gehen der Krähen zu kümmern. «Er trank einen großen Schluck Bier und stellte den Becher zur Seite.»Ich habe seit Ewigkeiten keinen guten Wein aus dem Süden genossen. Außerdem könnte ich eine neue Axt gebrauchen, meine ist stumpf geworden, und das darf nicht sein, ich muß schließlich meine Frauen beschützen. «Er sah hinüber zu seinen fleißigen Gattinnen.
«Ihr seid nur wenige und lebt hier sehr einsam«, meinte Mormont.»Wenn Ihr möchtet, gebe ich Euch ein paar Männer, die Euch nach Süden zur Mauer eskortieren.«
Dieser Vorschlag schien dem Raben zu gefallen.»Mauer«, krächzte er und breitete die Flügel wie einen hohen Kragen hinter Mormonts Kopf aus.
Ihr Gastgeber grinste gehässig und zeigte dabei seine abgebrochenen, braunen Zähne.»Und was sollen wir dort machen? Euch beim Essen bedienen? Hier sind wir freie Menschen. Craster dient niemandem.«
«Die Zeiten sind zu schlecht, um allein in der Wildnis zu
wohnen. Die kalten Winde erheben sich.«
«Mögen sie wehen. Meine Wurzeln haben sich tief in den Boden gegraben. «Craster packte eine Frau, die gerade vorbeiging, am Arm.»Sag's ihm, Weib. Sag dem Lord Krähe, wie zufrieden wir sind.«
Die Frau fuhr sich mit der Zunge über die dünnen Lippen.»Dies ist unser Heim. Craster beschützt uns. Lieber in Freiheit sterben denn als Sklave leben.«
«Sklave«, murmelte der Rabe.
Mormont beugte sich vor.»Jedes Dorf, durch das wir auf unserer Reise kamen, war verlassen. Ihr seid die ersten lebenden Menschen, die wir seit unserem Aufbruch von der Mauer gesehen haben. Die Menschen sind verschwunden… ob sie tot sind, geflohen oder gefangengenommen, konnte ich nicht feststellen. Die Tiere ebenfalls. Nichts ist zurückgeblieben. Und ein paar Meilen vor der Mauer haben wir zuvor zwei Leichen von Ben Starks Grenzern gefunden. Sie waren bleich und kalt, hatten schwarze Hände und schwarze Füße und ihre Wunden bluteten nicht. Als wir sie zurück nach Castle Black brachten, standen sie in der Nacht wieder auf und töteten. Einer hat Ser Jaremy Rykker umgebracht, der andere hatte es auf mich abgesehen, woraus ich schließe, daß sie sich noch an einiges aus ihrem früheren Leben erinnerten, aber Gnade kannten sie nicht mehr.«
Der Mund der Frau stand offen, eine feuchte rosafarbene Höhle, doch Craster schnaubte nur.»Solch Schwierigkeiten haben wir hier nicht… und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr solch schauerlichen Geschichten unter meinem Dach nicht mehr zum Besten gebt. Ich bin ein den Göttern gefälliger Mann, und die Götter behüten mich. Falls solche Wesen kommen, weiß ich, auf welche Weise ich sie in ihre Gräber zurücktreibe. Deshalb könnte ich eine scharfe neue Axt gebrauchen. «Mit einem Klaps auf das Hinterteil schickte er seine Frau weiter und rief dazu:»Mehr Bier, und zwar schnell.«