Er ging weiter. Das Tageslicht wurde schwächer, als sich der Wald auf eine natürliche Allee öffnete. Am Ende dieser Allee waren zwei Fichtenwipfel herabgezogen und mit Tauen verankert worden, sodass sie einen Bogen bildeten. Vom Scheitelpunkt des Bogens hing ein dunkles Bündel herab. Es war Raul, der zwanzig Fuß über dem Boden an Händen und Füßen zwischen den Bäumen aufgespannt worden war.
Wayland hängte sich den Bogen über die Schulter und nahm die Eisenwerkzeuge und den Stoff aus dem Rucksack. Mit ausgestreckten Händen ging er weiter, als wolle er die Gaben unter den baumelnden Mann legen. Auf beiden Seiten des breiten Weges erhoben sich Lappen aus dem Gebüsch. Sie trugen Kapuzenkittel aus Rentierhäuten. Die Fellseite zeigte nach innen, und die Kapuzenränder waren mit Wolfs- oder Fuchspelz verbrämt. Es war ein kleingewachsenes Volk, die Männer kaum größer als fünf Fuß, jedoch mit ausgewogenem Körperbau und den boshaften Zwergen ganz und gar nicht ähnlich, als die sie von den Wikingern beschrieben wurden. Die meisten trugen kleine Bögen oder Steinäxte, und einige hatten Hörner aus Birkenrinde aufgesetzt. Wayland sah niemanden mit Rauls Armbrust. Wahrscheinlich wussten sie nicht, wie man sie benutzte, oder sie hatten nicht genügend Kraft, um sie zu spannen.
Kurz vor dem Bogen blieb Wayland stehen. Raul hing dort mit nach oben gezogenen Armen, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken. Seine Kleidung war zerfetzt und fleckig. Bei seinem Anblick musste Wayland an die blutenden Christusfiguren denken, die er hinter Kirchenaltären gesehen hatte. Er hatte Raul nie anders als stark wie einen Ochsen erlebt, und es war ein Schock für Wayland, ihn in einem so beklagenswerten Zustand vor sich zu haben.
«Raul, kannst du mich hören? Raul!»
Der Deutsche hob ganz leicht den Kopf. «Bist du das, Wayland?» Seine Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen. Sein Gesicht war blutig und angeschwollen, und eines seiner Augen war ihm ausgestochen worden. «Sie haben mich bei einem Schläfchen erwischt. Sie haben mich angegriffen, ehe ich mich’s versah. Das sind verschlagene Teufel.»
«Wie viele hast du getötet?»
«Drei, glaube ich. Einer war noch ein Kind. Ich habe auf den ersten geschossen, den ich gesehen habe, und dann die Beine in die Hand genommen. Sie haben mich mit Schlingen zu Fall gebracht, und dann haben sie sich allesamt auf mich gestürzt. Sie haben mir die Rippen und weiß Gott was sonst noch alles gebrochen.» Er hustete und atmete mit einem pfeifenden Geräusch ein. «Ich habe schwere Verletzungen, Wayland.»
«Rede nicht mehr. Ich hole dich da runter.»
Raul schüttelte den Kopf. «Nicht einmal du kannst meinen Arsch retten. Die Heiden da unten wollen die Seile nur noch durchhacken. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann erlöse mich von meinem Elend.»
«Ich werde mit ihnen handeln. Du musst einfach …»
Ein heiseres Lachen. «Ich gehe nirgendwo mehr hin.»
Wayland legte seinen Bogen auf die Erde und das ausgeliehene Schwert darauf.
Raul atmete keuchend ein und hustete mühsam. «Es hat keinen Zweck, wenn wir beide sterben.» Seine Stimme wurde schwächer. «Du weißt, was sie tun werden. Sie werden mich mittendurch reißen.» Sein Körper verkrampfte sich. «Ich hätte nie gedacht, dass ich wie einer von diesen Märtyrern abtrete.»
«Du wirst nicht sterben», sagte Wayland. Er sah zu den Bäumen hinüber, suchte nach dem Anführer. Einige der Bogenschützen waren Frauen und andere noch grün hinter den Ohren. Er suchte sich einen älteren Mann aus, der aussah, als könnte er kühlen Kopf bewahren, und ging mit den Tauschwaren in den Händen auf ihn zu. Er war fünf oder sechs Schritte gegangen, als die Lappen einen Warnschuss abgaben und der Pfeil nur wenige Fuß vor ihm in den Boden fuhr. Er warf einen Blick zurück auf seine Waffen. Noch ein halbes Dutzend Schritte und er würde sie nicht mehr erreichen können, falls die Lappen angriffen. Seine Zunge blieb ihm am Gaumen kleben. Er legte dem Hund eine Hand auf die Schulter.
«Wayland», rief Raul mit einer Stimme, die aus seinem Innersten zu kommen schien. «Ich schätze es hoch, dass du mir nachgekommen bist. Sehr hoch. Du hast mehr getan, als jeder Kamerad verlangen kann, und ich flehe dich an: Rette dich selbst. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, aber ich habe noch eine Bitte.»
Wayland verzog das Gesicht, um die Tränen zurückzuhalten. «Dann los.»
Raul zog keuchend den Atem ein. Er konnte seinen Brustkorb nicht mit Luft füllen und erstickte langsam. «Du weißt, wie ich damit angegeben habe, mit einem Haufen Silber nach Hause zurückzukehren. Darüber hast du nur gelächelt und den Kopf geschüttelt, als wüsstest du, dass ich meinen Gewinn nur vergeuden würde. Und nun sieht es so aus, als hätte ich keine Gelegenheit mehr, dir das Gegenteil zu beweisen.» Raul schwieg einen Moment, und sein Kopf sackte nach vorn. «Ich jammere nicht. Ich wollte dir sagen, Wayland: Diese letzten paar Monate waren die besten meines Lebens.» Raul versuchte sich in seiner Fesselung anzuspannen, um den Druck von seinen Lungen zu nehmen. «Ich habe nichts mehr davon, aber falls mir ein Anteil Silber zusteht, kannst du dann dafür sorgen, dass es zu mir nach Hause gelangt? Ich weiß, Vallon hat gesagt, dass wir nur beteiligt werden, wenn wir Gewinn machen. Aber ich glaube nicht, dass der Hauptmann mir ein paar Münzen missgönnt. Er ist kein schäbiger Kerl.»
Wayland konnte nicht sprechen. Er schüttelte den Kopf.
«Ich weiß, dass du es nicht selbst erledigen kannst. Aber ich und der alte Garrick haben uns mal unterhalten, und er sagte, wenn er es bis nach Nowgorod schafft, dann will er wieder nach Hause. Ich habe ihm gesagt, er soll nach meiner Familie schauen, und auch, dass es dort gutes Land gibt, wenn er wieder Bauer sein will. Und ich habe ihm von meinen beiden Schwestern erzählt. Er könnte Dümmeres tun, als eine von ihnen zu nehmen, damit sie ihm das Bett wärmt.»
Wayland schluckte den Kloß hinunter, den er in der Kehle hatte. «Ich kümmere mich darum, mein Freund, aber so weit ist es noch lange nicht.» Er wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab.
Raul lachte herzzerreißend. «Ich kenne dich schon so viele Jahre, und jetzt nennst du mich zum ersten Mal ‹Freund›. Bete für meine Seele, Wayland.»
Wayland trat einen weiteren Schritt vor. Darauf wurde ein Horn geblasen, und die Lappen schossen einen Pfeilhagel ab. Mindestens drei Pfeile trafen Wayland, doch die Bögen der Nomaden waren leicht, und ihre Knochenspitzen zersplitterten an seiner Rüstung. Er rannte zurück zu seinen Waffen, während der Hund mit ein paar schreckenerregenden Sätzen vorwärtsstürmte, sodass die Lappen zurückwichen. Wayland sah einen Pfeilschaft aus der Lederrüstung des Hundes ragen.
Er nahm den Bogen in die Linke, das Schwert in die Rechte, und rannte brüllend auf den Bewacher an einem der Spannseile zu. Noch bevor er bei ihm war, hörte er ein Schnarren – und dann noch eins –, und die beiden Bäume richteten sich rauschend auf. Wayland sah, wie sich die Seile spannten, an die Raul gebunden war.
«Nein!»
Raul schien in den Himmel hinaufzufliegen, dann gab es ein Bersten und Platzen, und die beiden Hälften seines Körpers wurden auseinandergerissen und schwangen zu den schwankenden Bäumen zurück. Blut und Innereien regneten auf Wayland herab. Etwas Warmes und Feuchtes erstickte seinen Schrei. Von den Lappen kam lautes Gebrüll. Sie griffen an, und Wayland rannte zum Ende der Allee und wusste, dass sie ihn einholen würden, bevor er dort war. Ein weiterer Pfeil traf ihn am Brustkorb, und die Spitze durchbohrte das Kettenhemd. Ein Junge sprang ihm in den Weg und wollte ihm einen Speer in die Brust rammen. Wayland packte die Waffe vorn und zerhackte den Schaft. Der Aufprall und seine Gegenwehr brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Er taumelte und fiel zu Boden. Noch während er sich wieder aufrappeln wollte, sah er ein paar Füße, die sich vor ihm aufpflanzten. Als er aufsah, hatte er einen Mann vor sich, der mit seiner Steinaxt ausholte. Wayland rollte sich zur Seite und schwang dabei das Schwert im Halbkreis herum. Es traf die Fußknöchel des Axtmanns, der mit einem Schrei zu Boden stürzte.