Die Wikinger und Isländer verstanden nicht, warum die Falken Fleisch bekommen sollten, während sie selbst Moos für die Suppe kochten und auf Pferdeleder kauten, um den Hungerschmerz zu betäuben. Am Tag zuvor, als Wayland und Syth mit einem einzigen Hasen von der Jagd zurückgekommen waren, hatten die Wikinger und Isländer sie umringt und den Hasen für sich gefordert. Vallon hatte der Szene ein Ende bereitet, doch es war knapp gewesen. Wenn sie in den nächsten ein oder zwei Tagen nichts Essbares finden würden, war eine Revolte unausweichlich. Und danach würde Barbarei ausbrechen. Die Schwachen würden zum Sterben zurückgelassen, es käme zu Kannibalismus …
Richard schien Heros Gedanken zu lesen. «Drogo hält sich zurück, aber du kannst mir glauben, dass er nur auf den richtigen Moment wartet, um etwas gegen Vallon zu unternehmen.»
Seufzend schüttelte Hero den Kopf. Der Himmel, an dem tief die eisengrauen Wolken hingen, war ein Spiegel seiner Gemütsverfassung.
Sie stapften weiter. Graue Flecken zogen durch Heros Gesichtsfeld. Er rieb sich die Augen und stellte fest, dass es schneite – dicke, fedrige Flocken, die schon begannen, eine Schneedecke zu bilden.
Richard blieb stehen. «Wir gehen besser zurück.»
«Da ist ein Pfad», sagte Hero und deutete auf eine Talsenke, die vom Schnee hervorgehoben wurde. «Er führt vielleicht zu einer Hütte. Vom Schiff aus können wir das nicht feststellen.»
Bald machte der Schnee den Pfad unsichtbar, und sie konnten sich nur noch am Geräusch des Flusses orientieren. Hero wollte gerade um einen verkrüppelten Busch herumgehen, als der Busch mit einem Schrei aufsprang. Es folgten weitere Schreie, und Gestalten liefen durch den Schnee. Ein Pfeil zischte an Heros Kopf vorbei.
«Friede! Pax! Eirene!»
Die Aufregung legte sich. Hinter dem Vorhang aus zarten, weißen Flocken machte er Menschen aus, die sich hinter dunkle Ballen duckten. Drei Männer mit schussbereiten Bögen kamen auf sie zu. Sie waren in Pelze gekleidet, die Augen hatten sie feindselig zusammengekniffen. Einer von ihnen sagte etwas auf Russisch.
«Wir sind Händler. Auf dem Weg nach Nowgorod», sagte Hero.
Die Russen verstanden ‹Nowgorod›. Ihr Sprecher deutete hinter Hero und fragte, zu wievielt sie wären.
Hero zählte dreißig an seinen Fingern ab, und die Russen begannen zu stöhnen.
Da glitt auf dem Fluss der Drachensteven der Drakkar aus dem Schneevorhang. Vallon stand im Bug wie der leibhaftige Tod, und Drogo neben ihm trug Kettenhemd und Eisenhelm.
Die Russen stoben auseinander. «Waräger!»
«Nein! Wartet. Keine Waräger.»
Diese Worte kamen von Wulfstan, er rief sie auf Russisch und sprang von dem Langschiff. Die Waldmänner blieben in sicherer Entfernung stehen. Wulfstan rief erneut nach ihnen und winkte sie zu sich. Doch die Waldmänner wichen zurück, dabei verbeugten sie sich und baten die Reisenden um Verzeihung. Wulfstan konnte ein paar Brocken ihrer Sprache und stellte fest, dass sie Grenzbewohner waren, die den Sommer über Fallen gestellt und Honig und Bienenwachs gesammelt hatten. Nun waren sie in ihren Kanus auf dem Heimweg zu ihrem Dorf, das drei Tage westlich an der Mündung des Wolchows lag.
Wayland trat aus dem Wald, als die beiden Seiten noch verhandelten. Er warf einen Blick auf die Russen und hastete zu einem Jungen, der ein Bündel Birkenschneehühner auf eine Schnur gezogen über der Schulter hängen hatte. Wayland drehte sich zu Wulfstan um. «Erklär ihm, dass ich sie kaufen will.»
Der Vater des Jungen kam zu ihm. Er sah Waylands flehenden Blick und sagte etwas, das die Russen zum Lachen brachte.
Wayland fuhr herum. «Was hat er gesagt?»
«Du kannst sie für fünf Eichhörnchen haben», sagte Wulfstan.
«Ich habe aber keine fünf Eichhörnchen. Wenn ich sie hätte, bräuchte ich die Schneehühner nicht.»
Wulfstan grinste. «Die Hinterwäldler rechnen in Fellen. Eichhörnchen sind die kleinste Währungseinheit. Ich schätze, mit einem Penny kannst du all diese Schneehühner kaufen und bekommst noch eine Rehkeule dazu.»
Für zwei Silberpennys kaufte Wayland genügend Fleisch, um die Falken drei Tage lang zu ernähren.
Später, im Lager der Russen, tauschte Richard mehrere Fuchsfelle gegen einen Sack Roggenmehl und zwei triefende Honigwaben ein. An diesem Abend quetschten sich die Reisenden in eine Hütte und aßen zum ersten Mal seit einem Monat Brot. Der gebackene Teig war alles andere als eine Köstlichkeit – es waren verkohlte und grobkörnige Fladen, die sie in der verräucherten und mit Moos abgedichteten Hütte aßen – doch alle senkten andächtig die Köpfe, als Vater Hilbert das Dankgebet sprach.
Das zivilisierte Rus begann bei Staraja Lagoda, einer Festungsstadt ein paar Meilen den Wolchow hinauf. Hier blieben sie lange genug, um ihre Vorräte aufzufüllen. Südlich der Stadt lichteten sich die Wälder und wurden schließlich zu einer sandigen Heidelandschaft, die nur noch hier und da mit eiskalten Weihern und Kiefern- oder Birkenwäldchen durchsetzt war. Dann erreichten die Reisenden Ackerland und ruderten an massiven Blockhäusern auf Wiesen mit flügelschlagenden, zischenden Gänsen und krähenden Hähnen vorbei. Zwischen den Bauerngehöften gab es prächtige Eichenbestände und Ahornwälder, aus denen Axthiebe schallten. Die Bauern auf den Feldern richteten sich von der Arbeit auf, um das Langschiff vorbeiziehen zu sehen. Viele von ihnen bekreuzigten sich, dachten vielleicht an die Erzählungen ihrer Großeltern von alten Zeiten, als die Einwohner geflüchtet waren, wenn ein Drachenschiff auftauchte. Ihre Kinder hatten keine solchen Befürchtungen und jagten stöckeschwenkend neben dem Langschiff her. «Waräger! Waräger!»
Vier Tage, nachdem sie in den Wolchow eingefahren waren, erreichten sie Nowgorod. Nördlich der Stadt teilte sich der Fluss um eine große Insel, an deren Spitze eine Mautstelle lag. Dort wurden sie von einer bewaffneten Reitertruppe zum Ufer dirigiert. Ihr Anführer, ein Mann mit blatternnarbigem Gesicht, war elegant in einen knöchellangen Pelzmantel mit Silberknöpfen gekleidet. Er richtete sich an die ungewaschene Besatzung, als wären sie Exarchen und von Byzanz ausgesandt worden.
«Willkommen in Groß-Nowgorod», sagte er auf Nordisch. «Die Jäger, denen Ihr am Swir begegnet seid, haben Eure Ankunft angekündigt. Erlaubt mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Andrei Ivanov, Verwalter des Herrn Vasili, eines Bojaren aus der Stadt und Gildemeister der Händler.» Sein Blick zuckte herum. «Wer spricht für Euch?»
Finger zeigten auf Vallon.
«Die Jäger haben gesagt, Ihr kommt vom Weißen Meer, aber sie wissen nicht, wo Ihr Eure Reise begonnen habt.»
Vallon sah sich nach Wayland um. «Erklär du es ihm.»
«Wir sind in diesem Frühling von England abgesegelt und über Island und Grönland hierhergekommen.»
Andrei lachte laut auf. «Ich bin schon viel zu lange in der Handelsschifferei, als das Ihr mir so einen Bären aufbinden könnt.»
«Glaubt, was Ihr wollt», sagte Wayland. «Ich bin Engländer, und das Mädchen auch. Unser Anführer Vallon ist Franke. Die beiden da sind Normannen. Und die Leute dort sind Isländer. Die übrigen sind Wikinger aus Halogaland. Wenn Ihr meine Worte bezweifelt, dann fragt den Mann mit der Tonsur. Er ist ein Mönch aus Deutschland. Bis vor ein paar Wochen hatten wir noch einen anderen Deutschen dabei. Er wurde in den Wäldern von Lappen getötet.»
Andrei wechselte erstaunte Blicke mit seiner Eskorte, dann nahm er seinen Hut ab. «Vergebt mir meine Zweifel. Ihr seid die ersten Reisenden, die nach solch einer Fahrt nach Nowgorod kommen. Welche Waren führt Ihr mit?»