Выбрать главу

Erneut befeuchtete Vasili seinen Finger und zog eine Linie vom Dnjepr nach Kiew. «Zuerst ist der Fluss schmal und verläuft durch ein Waldgebiet. Aber bald kommen mehrere Zuflüsse, sodass er zwei Werst breiter wird. Von Kiew aus ist die Fahrt einfach – man schafft siebzig Werst am Tag – bis Ihr hier ankommt.» Vasili pochte mit dem Zeigefinger auf den Fluss. «Hier verläuft der Dnjepr durch eine enge Schlucht, und es folgen neuen Katarakte. An manchen Stellen werdet Ihr waten und Eure Boote mit Seilen um die Felsen herumziehen müssen. Dort gehen jedes Jahr viele Menschenleben und viele Schiffe zugrunde. Euch wäre der Untergang sicher, weil Ihr keinen Lotsen finden werdet, der Euch durch die Stromschnellen führt.»

«Und warum nicht?»

Wieder pochte Vasili mit dem Finger auf den Tisch. «Weil Ihr – selbst wenn Euch die Katarakte lebendig ausspucken – die größte Gefahr erst noch vor Euch habt.»

«Die Petschenegen.»

Vasili lächelte. «Also ist der Ruf dieser Steppennomaden schon bis über die Grenzen von Rus gedrungen. Nun, ich habe Euch Neues über sie zu berichten. Die gute Nachricht ist, dass die Petschenegen vor ungefähr zehn Jahren aus der Steppe im Süden vertrieben wurden. Die schlechte Nachricht ist, dass die Krieger, die sie besiegt haben, Barbaren genau desselben Schlags sind, nur noch grausamer und unersättlicher. Es sind diese Wilden, die vor vier Jahren Kiew bedroht haben. Kumanen nennen sie sich. Sie liegen am Ausgang der Wasserschlucht auf der Lauer, aber die Bewegungen ihrer Kampfverbände sind so unvorhersehbar, dass Ihr ihnen auf Kiewer Gebiet überall begegnen könntet. Hört mich an, Bruder. Die Kumanen sind so gefährlich, dass kein Händler es wagt, ihr Gebiet zu durchqueren, es sei denn, er reist in einem Flottenverband, der von Soldaten bewacht wird. Und Händler geben nicht mehr Geld aus als nötig. Welche Chance glaubt Ihr unter diesen Umständen zu haben? Keine, das sage ich Euch. Nicht die geringste.»

«Die Nomaden rechnen aber nicht mit uns. Wenn wir diese Passage hinter uns haben, sind wir dann sicher?»

Vasili zuckte mit den Schultern. «Ja, wenn Ihr immer auf dem Fluss bleibt und Euer Lager nur auf Inseln aufschlagt. Im Mündungsgebiet kommt Ihr dann schließlich zur Insel St. Aitherios. Und dort, mein Bruder, werdet Ihr feststellen, dass all Eure Mühen umsonst waren.»

«Und weshalb?»

«Nur mit kleinen Booten kann die Portage an der Wasserscheide bewältigt werden; und nur mit einem großen Schiff gelingt die Passage übers Schwarze Meer. Um diese Jahreszeit werdet Ihr an der Mündung des Dnjepr keine Handelsschiffe finden. Das ganze Gebiet ist verlassen.» Vasili lehnte sich zurück. «So. Ich habe Euch Eure Aussichten beschrieben. Seid Ihr immer noch entschlossen, es zu riskieren?»

«Hero hat mir einmal gesagt, dass eine abgebrochene Reise ist wie eine nur zur Hälfte erzählte Geschichte. Wir werden bis zum Ende gehen, wo auch immer es uns begegnet.»

Vasili warf lachend den Kopf zurück. «Mein Freund, wenn Ihr Euer Ziel tatsächlich erreicht, hoffe ich, dass Ihr einen Barden findet, der Eure Abenteuer unsterblich macht.»

Wie Vallon feststellte, hatten seine Leute so viel gegessen, dass sie sich kaum noch rühren konnten. Einige gähnten unverhohlen. «Herr Vasili, verzeiht uns unseren Mangel an gutem Benehmen, aber meine Gefährten sind immer noch von den Strapazen erschöpft, und Eure freigebige Gastfreundschaft hat sie überwältigt. Wenn Ihr erlaubt …»

Vasili erhob sich sofort. «Lasst sie schlafen. Ja, nach Essen und Trinken ist der Schlaf eine Wohltat.»

Die Reisenden standen auf und verbeugten sich, während Vallon ihrem Gastgeber erneut für seine Großzügigkeit dankte.

Vasili winkte ab. «Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Vielleicht würdet Ihr mir die Ehre eines Gesprächs unter vier Augen erweisen?»

«Selbstverständlich. Aber mein Nordisch ist sehr schlecht. Kann ich jemanden mitbringen, der …»

«Natürlich.»

Vallon nickte Wayland zu. Vasili geleitete sie in eine Kammer mit Fensterscheiben aus Frauenglas. Er bot seinen Gästen auf einer mit Fellen belegten Bank Plätze an, sagte etwas zu seinem Verwalter und setzte sich dann zu ihnen.

«Nachdem ich Eure Reiselust nicht habe eindämmen können, will ich, dass Ihr unter günstigen Bedingungen reist. Ich habe einen Empfehlungsbrief geschrieben, der Euch in Kiew die Türen öffnen wird. Mein Verwalter wird Euch bei der Suche nach geeigneten Booten helfen, und ich gebe Euch einen Führer mit, der auch auf meinen eigenen Reisen mitfährt. Oleg kennt jeden Zoll Weg der Portage und die Flussmänner, die Euch hinüberbringen werden. Das sind ehrliche und bereitwillige Arbeiter. Wenn es Euch beliebt, könnt Ihr Euch also während der Portage ein Liedchen pfeifen und die Hände in die Hosentaschen stecken.»

«Ich bin Euch sehr verbunden. Wir werden natürlich dafür bezahlen.»

Vasili winkte ab. «Oleg gehört zu meinen Leuten, und ich komme für ihn auf. Er wird dafür sorgen, dass die Träger Euch einen fairen Preis machen.» Vasilis Mundschenk trug auf einem Emaille-Tablett eine Glaskaraffe und drei Silberbecher herein. «Griechischer Wein. Ich hoffe, Euer Arzt erlaubt Euch seinen Genuss.»

Vallon schnupperte genießerisch an dem purpurroten Getränk. Als er daran nippte, stieg Wärme in ihm auf. Doch er ahnte, dass von Vasili noch etwas kommen würde.

«Wenn es etwas gibt, das wir als Gegenleistung tun können …»

«Nein, nichts. Der Handel ist das Lebenselixier von Groß-Nowgorod. Berichtet Euren abenteuerlustigen Händlerfreunden von dem großzügigen Empfang, mit dem sie hier rechnen können.» Vasili trank einen Schluck und dachte kurz nach. «Allerdings gäbe es da tatsächlich einen kleinen Gefallen, den Ihr mir tun könntet. Ich habe einige Dokumente nach Kiew zu schicken. Da nun der Winter vor der Tür steht, war ich davon ausgegangen, damit bis zum nächsten Jahr warten zu müssen, aber nachdem Ihr zum Aufbruch entschlossen seid, würde es Euch vielleicht nicht stören …»

«Keineswegs. Entschuldigt mich einen Augenblick.» Vallon lächelte und sagte auf Französisch zu Wayland: «Hör auf, ihn so finster anzustarren.» Dann wandte er sich immer noch lächelnd wieder an Vasili. «Er trinkt normalerweise keinen Wein. Ich habe ihm gesagt, er soll ihn sich nicht zu Kopf steigen lassen.»

Vasilis Blick ruhte kurz auf Wayland, bevor er zu Vallon zurückwanderte. «Verehrter Freund, ich muss einen letzten Versuch machen, Euch von Eurer Entscheidung abzubringen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Euch etwas zustieße. Kann ich Euch denn gar nicht davon überzeugen, in Nowgorod zu bleiben und Eure Angelegenheiten in meine Hände zu legen?»

«Wir reisen ab, sobald wir geeignete Boote gefunden haben. Wie gesagt, die Falken stehen nicht zum Verkauf, aber falls Ihr an unseren anderen Waren Interesse habt …»

Vasili wedelte mit den Fingern. «Ich bin immer bereit, einen Freund zu unterstützen. Wenn Ihr wollt, nehme ich Euch das Walross-Elfenbein und den Schwefel ab. Ich schicke Euch morgen meinen Verwalter vorbei. Und nun will ich Euch nicht länger vom Schlafen abhalten.»

Vasili begleitete seine beiden Gäste bis zum Tor seines Grundstücks. «Gute Nacht, geschätzter Freund. Denkt über meinen Vorschlag nach.»

Das Tor schloss sich hinter ihnen. Sie gingen müde durch die verlassenen Straßen. Das Glockengeläut der Kathedrale klang fremdartig in Vallons Ohr.

«Du hast dich wie ein Flegel benommen», sagte er.

«Ich traue ihm nicht.»

Vallon blieb stehen. «Wenn ein Mann dein Misstrauen erregt, dann lässt du dir deinen Verdacht nicht anmerken.» Er ging weiter. «Und warum traust du ihm nicht?»

«Es stimmt, dass Nowgorod vom Handel lebt, und mit einer üppigen Mahlzeit ist unser Entgegenkommen nicht teuer erkauft. Außerdem war unsere neue Kleidung trotz Richards Verhandlungskünsten nicht billig.»