Drei oder vier Meilen flussaufwärts ruderten sie in den Illmensee und legten mühelos zwanzig Meilen zurück, bevor sie in die Lowat einfuhren, den Fluss, der Richtung Süden zur Großen Portage führte. Wie Vasili sie vorgewarnt hatte, führte die Lowat Niedrigwasser, und es gab viele Untiefen, bei denen sie aussteigen und die Boote ziehen mussten.
Das Wetter war unvergleichlich schön. Bitterkalte Frostnächte überzogen das Flussufer mit Eis, das unter dem strahlenden Sonnenschein der Tage wieder schmolz. Zwei Tage flussauf ließ Oleg den Bootskonvoi bei einem Bauernhof in einem Wald aus Birken und Kiefern halten. Zuvor waren sie schon an vielen ähnlichen Gehöften vorbeigekommen: Eine Blockhütte in blauen Rauch gehüllt. Ein Boot, das auf das grasbewachsene Ufer hinaufgezogen worden war, daneben ein Gestell für Trockenfisch. Zwei kleine, um Stangen aufgeschichtete Heuhaufen. Eine Kuh, die aus einer Futterkrippe fraß.
Oleg sprang ans Ufer und begann laut zu rufen. «Dorogoy, Ivanko!»
Aus der Hütte trat ein Mann mit rotbraunem Haar und Bart. Er hob die Hand zum Gruß. «Dorogoy, Oleg!»
Ivanko stapfte zum Flussufer herunter. Seine Hosenbeine waren viel zu weit. Er war ein merkwürdig gebauter Bursche. Oberhalb der Körpermitte war er ein großer Mann, unterhalb ein kleiner, mit Krüppelbeinen, die in enorm großen Stiefeln steckten. Hinter ihm liefen seine beiden wackeren Söhne mit demselben eigentümlichen Körperbau aus dem Haus. Es war, als wäre ihre Taille dorthin gerutscht, wo eigentlich die Knie hätten sein sollen.
«Dorogoy, Oleg», riefen sie. Die beiden hatten Handbeile unter den Gürtel gesteckt und trugen grobe Schuhe aus Birkenbast. Vielleicht waren Ivankos Siebenmeilenstiefel eine Art Amtszeichen, oder er hatte sie geerbt.
Vallon verfolgte die fröhliche Begrüßung des Führers und der Träger. Nichts deutete darauf hin, dass sie etwas zu verbergen hatten. Er sah Wayland an und zuckte mit den Schultern.
Ivanko lud sie in sein Blockhaus ein. Ein Herd verräucherte den Innenraum. Hero rieb sich hustend die Augen. «Sie machen es falsch herum. Die Kälte zieht durch den Kamin herein, und die Wärme entweicht durch die Tür.»
Nach einem Essen aus Brei und Kwas luden Ivanko und seine Söhne ihre Ausrüstung in einen grob behauenen Einbaum, den sie in einen Schlitten oder einen Karren verwandeln konnten, indem sie Kufen oder Räder daran montierten. Sie schirrten zwei Pferde an, und dann, nach einem kurzen Gebet, ging es los. Unterwegs nahmen sie weitere Träger aus anderen Bauernhäusern mit, und als sie schließlich abends den Halt ausriefen, waren noch zwölf Träger, vier Pferde und zwei Kanus dazugekommen. Alle Träger schienen begeistert von dem Gedanken, ihre alltäglichen Arbeiten für das Vorrecht ruhen zu lassen, drei schwerbeladene Boote durch neunzig Meilen Wald zu ziehen.
Am nächsten Tag verließen sie die Lowat und begannen die Portage. Es war nicht so mühsam, wie Vallon gedacht hatte. Oleg nutzte jeden kleinen Fluss oder See, und davon gab es in dieser Gegend viele. Zwischen den Wasserläufen schoben Ivanko und seine Leute die Karren unter die Boote und zogen sie mit Pferden, doch auch die Männer legten sich in die Seile und sangen dabei. Der Weg wurde offenkundig viel benutzt, über einigen Sumpfstellen waren Dammwege aus Balken angelegt worden. Am Abend schlug die Karawane ihr Lager neben geschwärzten Steinkreisen der Lagerfeuer früherer Reisender auf. Zweimal kamen sie bei der Portage an verwitterten hölzernen Kultbildern vorbei. Die phallischen Säulen trugen schnurrbärtige Gesichter, die in alle vier Richtungen schauten. Schließlich bekamen sie aus Oleg heraus, dass es sich um Perun handelte, den Donnergott. Er gab vor, die Götterstatuen nicht zu bemerken, und es war ihm offenkundig unangenehm, als sich die Träger vor ihnen verbeugten und bekreuzigten. Vallon war ihre Abgötterei vollkommen gleichgültig. Sei waren fröhliche und willige Arbeiter und in ihrem Handwerk äußerst geschickt. Je nachdem, was der Moment erforderte, konnten sie ihre Äxte als Messer, Hobel, Säge oder Hammer einsetzen.
Sie kamen immer höher, doch der Weg wurde nie steil, stieg nur langsam an, bis sie schließlich aus dem Wald heraus waren und ein Torfmoor-Gebiet erreichten. Vallon fühlte sich, als stünde er am Mittelpunkt der Welt. Wohin er auch sah, überall umgaben ihn sanft dahinrollende, goldbraune Waldhügel, deren Kämme im Dunst verschwammen, bis der letzte nicht mehr vom Himmel zu unterscheiden war. Oleg deutete nach Süden. «Dnjepr», sagte er. Dann schwang er seine Hand nach Nordosten. «Wolga.» Dann nickte er mit sehr ernster Miene, als wolle er eine Wahrheit bekräftigen. Dass nämlich die Lebensadern von Rus in diesem Kernland entsprangen.
«Habt ihr das gehört?», rief Vallon. «Wir haben die Wasserscheide erreicht.»
«Was für eine Erleichterung, auf der richtigen Seite der Schwerkraft zu stehen», sagte Richard.
Hero lachte über Vallons Verwirrung. «Er meint, dass unser Weg von jetzt an abwärts führt. Die ganze Strecke bis zum Schwarzen Meer.»
Um die Mittagszeit des nächsten Tages fuhren sie flussab in einen Wald, an den seit dem Schöpfungstag kein Mensch Hand angelegt hatte. Wayland lag auf dem Rücken, Syths Kopf ruhte auf seinem Arm und ließ die Bäume über sich vorbeiziehen. Es waren altvertraute Baumarten, doch sie waren zu unglaublicher Größe herangewachsen. Viele der Eichen- und Kiefernstämme ragten achtzig Fuß auf, bevor die ersten Äste kamen, und manche der Fichten mussten hundertfünfzig Fuß hoch sein. Es war ein Ort der Vergänglichkeit und Erneuerung, hier sprossen neue Schösslinge aus totem Holz, verschiedene Baumarten umarmten sich in spiraligem Wachstum, verfaulende Giganten verschmolzen wieder mit der Erde. So weit im Süden war noch Herbst, und die Reisenden glitten in einem niemals endenden gelben, roten und braunen Blätterregen dahin, der zu einem bunten Mosaik auf der Wasseroberfläche wurde.
Wenige kürzere Portage-Strecken brachten sie zu einem breiten, ruhigen Fluss. «Dwina», sagte Oleg. «Drei Tage, und wir sind beim Dnjepr.»
Vallon redete unter vier Augen mit Wayland, während die Träger die Boote vorbereiteten. «Du täuschst dich in Vasili. Ich beobachte Oleg wie ein Luchs, und er ist so ehrlich, wie man es sich nur vorstellen kann.»
«Sogar zu ehrlich. Die meisten Führer, die Fremde durchs Land begleiten, würden sie aufs Kreuz legen.»
Vallon schüttelte entnervt den Kopf. «Wie ging dieser Satz noch mal, den Raul immer gesagt hat? ‹Dein Verstand ist so verdreht wie ein paar Schweinedärme.› Du wirst doch wohl nicht glauben, dass die Träger bei Vasilis Komplott mitmachen.»
«Nein. Deswegen denke ich auch, dass Vasili zuschlagen wird, nachdem wir die Träger am Dnjepr ausbezahlt haben. Wir müssen an einer anderen Stelle an den Fluss kommen als an der, die Oleg aussucht.»
«Ich kann unserem Führer wohl kaum vorschreiben, welchen Weg er nehmen soll.»
In diesem Moment rief Oleg, es sei Zeit, wieder in die Boote zu steigen.
Die meisten Mitglieder des Konvois dösten über den Riemen, während sie durch die Wälder den Fluss hinunterglitten. Doch sie konnten sich nur kurze Zeit erholen. Schon ein paar Meilen flussab befahl Oleg ihnen, zu einem Nebenfluss zu rudern, der auf der linken Seite einmündete.
«Wohin kommen wir auf diesem Fluss?», fragte Vallon.
«Smolensk», sagte Oleg. «Zwei Tage.»
«Herr Vasili hat uns geraten, um Smolensk einen Bogen zu machen.»
«Ja, ja. Wir treffen südlich von Smolensk auf den Dnjepr. Morgen werde ich ein Stück vorausfahren, um noch mehr Träger anzuheuern.»
Das waren die ersten verdächtigen Sätze, die Oleg von sich gegeben hatte. Vallon sprach in arglosem Tonfall weiter. «Mir wäre es lieber, wenn du bei uns bleibst.»
«Ivanko kennt den Weg ebenso gut wie ich. Keine Sorge, morgen essen wir wieder wie üblich gemeinsam zu Abend.»
«Es ist sehr bedauerlich, dass wir diesen breiten Fluss so schnell verlassen.»