Hero grinste. «Viel besser.»
Der Fluss strömte mit der Trägheit eines müden alten Mannes dahin. Trotzdem hatten die Boote vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung wohl fünfzig Meilen zurückgelegt. Ihr Kurs führte südwärts, und nach vier Tagen wurde der Fluss breiter, an manchen Stellen bis zu zwei Meilen, und er schimmerte wie Metallblech unterm Himmelsgewölbe. Hero saß träge an seinem Riemen, nur hin und wieder korrigierte er leicht den Kurs.
Sie mäanderten durch ein Labyrinth aus Inseln und Sandbänken, trafen immer öfter auf Fischer und Holzfäller, die Balkenflöße stromab stakten. Sie hielten sich bei diesen Begegnungen nur lange genug auf, um zu erfahren, wie weit es noch bis Kiew war. Alle paar Meilen kamen sie nun an Dörfern vorbei, manchmal auch im Dunkeln, sodass sie ihre Existenz nur an einer läutenden Kirchenglocke, dem Schimmer eines Binsenlichts durch einen Türspalt oder der Stimme einer Mutter ablesen konnten, die ihre Kinder zum Abendessen rief. Immer schlugen sie ihr Lager in den Wäldern auf und am liebsten auf Inseln.
Nun, wo er mehr Muße hatte, begann Wayland, die Falken an den Umgang mit Menschen zu gewöhnen. Jeden Tag fütterte er sie auf seiner Faust, und weil diese Aufgabe viel Zeit in Anspruch nahm, ließ er sich von Syth helfen, zeigte ihr, wie die Falken mit dem Geschühriemchen und dem Fuß zwischen Daumen und Zeigefinger ausbalanciert wurden. Um den ausgewachsenen weißen Vogel allerdings kümmerte sich Wayland allein. Sein anderer Liebling war ein gedrungener Terzel, dessen Gefieder wie Zinn und Silber und Stahl zugleich schimmerte. Obwohl zahm, war dieser Vogel nicht so gefügig wie das weiße Falkenweibchen, das mit geradezu königlicher Haltung fraß, Wayland immer im Blick behaltend, sein bohrendes Starren immer noch so unvermittelt und wild wie an dem Tag, an dem er es gefangen hatte.
Wenn es das Wetter zuließ, setzte er die Falken jeden zweiten Morgen an der Langfessel auf einen Holzpfosten ans Ufer, damit sie baden konnten. Das taten sie nur selten, sondern versuchten stattdessen, ihr Geschüh abzustreifen. Der weiße Falke schien zu wissen, dass er seine Fesseln nicht loswerden konnte, und doch sehnte er sich nach Freiheit, duckte sich unter halb ausgebreiteten Schwingen und stieß sich zu einem sinnlosen Flugversuch ab, sodass sich Wayland jedes Mal innerlich wand.
Syth und er gingen täglich mit dem Kanu auf die Jagd und kehrten selten mit leeren Händen zurück. Bei jeder Flusskehre und in jeder Bucht paddelten Wasservögel herum oder hoben quakend zum Flug ab. Wayland machte Syth einen leichten Bogen aus einem abgelagerten Eibenast, den er in Nowgorod gekauft hatte. Er glättete das Holz mit einem Schweifhobel, der Raul gehört hatte. Als er fertig war, sah man im Querschnitt des D-förmigen Bogens vorne das blasse Splintholz für die Spannung und hinten das goldfarbene Kernholz, das den Druck abfing. Während er den Bogen baute, dachte Wayland an Raul – an seine geschickten Hände und die unglaublichen Kriegsgeschichten, die er bei der Arbeit erzählt, oder die immer phantastischeren Zukunftspläne, die er dabei geschmiedet hatte. Und wenn er an Rauls Tod dachte, musste er an den Hund denken. Dann wanderte sein Blick über die Bäume, als zöge der Geist des Tieres noch immer durch die Wälder. Nicht einmal Syth wusste, wie sehr er um den Hund trauerte. Während sie selbst bei der Nachricht von seinem Tod in Tränen ausgebrochen war, hatte Wayland sich gelassen gegeben. Es war doch nur ein Hund, hatte er gesagt. Sie hatte ihm mit den Fäusten auf die Brust getrommelt und war weggerannt, um sich allein die Augen aus dem Kopf zu weinen.
Nur ein Hund. Der Verlust fühlte sich an, als wäre Wayland ein Stück aus dem Herzen gerissen worden. Manchmal sprach er zu dem Tier, bevor ihm mit einem eiskalten Schrecken bewusst wurde, dass es nicht mehr lebte. Einmal hörte er in der Ferne Hundegebell und sprang auf, weil ihm die Wahnvorstellung durch den Kopf schoss, der Hund könnte irgendwie überlebt haben und ihm Hunderte von Meilen durch die Wälder gefolgt sein.
Als ihn nachts einmal ein tieftrauriges Jaulen weckte, stand er auf und folgte dem Geräusch, bis er die Silhouette eines Wolfes sah, der auf einem Felskopf oberhalb des Flusses stand. Er heulte den Vollmond an, vor dem dünne Wolkenfetzen vorbeizogen. Nirgends sonst am Himmel hingen Wolken, und als Wayland noch einmal genauer hinsah, erkannte er, dass es langgezogene Gänseschwärme waren, die wie schwarze Spitze vor dem Mond dahinzogen. Er begann zu schluchzen, ohne sagen zu können, wem seine Tränen galten. Dem Hund und Raul, aber auch dem einsamen Wolf und den Gänsen auf ihrem Zug nach Süden, und einem Schmerz, der zu tief saß, um ihn zu ergründen.
Am nächsten Morgen verstärkte er die Bogenenden mit Horn und bespannte sie mit einer Darmsehne. Dann maß er Syths Arm ab und kürzte ein paar seiner eigenen Pfeile, damit sie ihrer Zuglänge entsprachen. Er schnitt ein Stück Tuch als Ziel zurecht, hängte es an einen Baumstamm und führte Syth dreißig Schritt weit weg. Er zeigte ihr, wie man sich aufstellt und das Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt. «So ist es gut», sagte er. «Halt den Bogen nicht mit den Fingern fest. Setze den Druck deiner Hand ein und halte den Arm gerade. Du spannst dich zu sehr an. Drück mit deinem ganzen Arm, als ob du nach dem Ziel greifen wolltest. Und der Ellbogen muss zur Seite zeigen, sonst schabt die Bogensehne daran entlang. In die Sehne hakst du dich mit den ersten Fingergliedern ein. Du musst zur gleichen Zeit spannen und zielen. Versuch, das Ziel eher mit den Gedanken anzupeilen, als daraufzustarren. Entspanne deine Arm- und Schultermuskeln. Überlass deinen Rückenmuskeln den Hauptteil der Arbeit.»
Syth stampfte mit dem Fuß auf. «Das kann ich mir nicht alles merken. Lass es mich auf meine Art machen.»
Wayland trat einen Schritt zurück. «Gut. Wir besprechen es danach.»
Syth hob den Bogen, spannte und ließ den Pfeil abschnellen. Er schlug einen Fuß oberhalb des Ziels in den Baumstamm ein. Sie grinste Wayland an. Anfängerglück, dachte er. «Du machst es sehr gut», sagte er und reichte ihr den nächsten Pfeil. Dieses Mal traf sie unter das Ziel, aber nicht sehr weit darunter. Stirnrunzelnd gab er ihr einen dritten Pfeil. Er blieb bebend mitten im Ziel stecken.
«Du hast schon früher einmal mit einem Bogen geschossen.»
«Meine Brüder haben mir einen kleinen Bogen gemacht und mir gezeigt, wie man ihn spannt. Wohin gehst du?»
«Die Falken füttern. Du bist ein Naturtalent. Das würde ich mit meinen Belehrungen nur verderben.»
Am nächsten Morgen gingen sie beim Hellwerden auf die Jagd. Nebelspiralen stiegen vom Fluss auf, und ein rötlicher Mond hing über dem gegenüberliegenden Ufer. Wasservögel schnatterten lärmend im Röhricht. Die beiden Jäger paddelten behutsam voran, denn jedes Eintauchen war verräterisch. Als sie eine Landzunge erreichten, legten sie die Paddel weg und knieten sich mit gespannten Bögen ins Boot.
«Bereit?»
Hunderte von Gänsen flogen mit klatschenden Flügeln auf. Wayland schoss, als sie emporstiegen, und als der Schwarm über dem Wasser war, trieb einer der Vögel mit pfeildurchbohrtem Körper auf den Wellen. Wayland paddelte hin und wollte die Beute für sich in Anspruch nehmen. Dann aber sah er die Befiederung des Pfeils. «Es ist deiner», sagte er.
«Sie ist eine Diana», sagte Hero abends. Gänsefett glänzte auf seinem Kinn. Und als er erklärt hatte, dass Diana die Göttin des Mondes und der Jagd sei, betrachtete Wayland Syth mit solchem Stolz, dass sie seinen Blick mit ihren hellen Augen misstrauisch zurückgab.
«Was?»
Von Norden kam Winterwind auf und fuhr peitschend über den Fluss. Mit gesetzten Segeln erreichten die Boote eine gute Geschwindigkeit, sodass sie an drei Tagen hintereinander siebzig Meilen zurücklegten. Der Wald wurde lichter, und der Bootsverkehr verstärkte sich. Das linke Ufer war flach, sumpfig und beinahe unbewohnt. Sämtliche größeren Siedlungen befanden sich auf dem hügeligen rechten Ufer. Und auf dieser Seite sahen sie an einem Spätvormittag auch die goldenen Kuppeln von St. Sophia, die vor einem Himmel glänzten, über den der Rauch von zehntausend Kochfeuern zog.