Sie legten an einem Kai vor dem Händlerviertel an Kiews Nordgrenze an. Ein pedantischer Zöllner mit dem Abzeichen des Hafenaufsehers befragte sie eingehend, bis Vallon Herrn Vasilis Namen erwähnte und seine Empfehlungsschreiben vorzeigte. Vallon befürchtete, dass die Beamten darin aufgefordert werden könnten, sie zu verhaften und ihre Waren zu beschlagnahmen. Hero und er wechselten einen Blick, während der Zöllner durch die Dokumente blätterte. Schließlich straffte sich der Hafenaufseher, wippte leicht auf den Fußspitzen und salutierte. Herr Vasili genieße in Kiew hohes Ansehen, sagte er. Gäbe es vielleicht irgendetwas, das er tun konnte, um ihnen den Aufenthalt angenehmer zu gestalten? Bräuchten sie Unterkünfte für die Reisenden und Ställe für die Pferde? Auf sein Fingerschnipsen eilten ein Dutzend Hafenarbeiter herbei. Der Zöllner führte Vallon und seine Leute eine Straße hinauf und wedelte dabei mit den Händen, als müsse er ihnen mehr Platz verschaffen. Hinter der inneren Befestigungsmauer der Stadt schloss er ein Tor auf, das in einen Hof mit einem bröckeligen Haus aus Holz und Lehm und einem nordischen Hallenbau mit einsinkendem Strohdach führte. Es war von Waräger-Händlern gebaut worden, erklärte der Zöllner, und war seit zehn Jahren unbewohnt. Wenn die Reisenden jedoch mehr Bequemlichkeit wünschten …
«Es passt uns sehr gut», sagte Vallon. «Wir werden nicht lange bleiben.»
Er wies den Wikingern und Isländern den Lehmbau zu und den anderen Reisenden den Palas. Der Zöllner versprach, einen Koch und einen Haushälter zu suchen, und erkundigte sich nach weiteren Wünschen. Richard steckte ihm eine Silbermünze zu und erklärte, sie bräuchten einen Flusslotsen für die Weiterfahrt zum Schwarzen Meer. Der Mann hob die Hand, als gäbe es mehr als genug Flusslotsen, und verabschiedete sich.
«Wie lange bleiben wir?», fragte Richard.
«Wir fahren übermorgen», antwortete Vallon.
Richard war enttäuscht. «Dann haben wir nicht viel Gelegenheit, um Kiew kennenzulernen.»
«Also mach das Beste daraus. Du hast heute noch den halben Tag Zeit.»
Vallon und Hero blieben im Haus, um auf die Lotsen zu warten, und sie warteten immer noch, als diejenigen, die sich Kiew angesehen hatten, nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehrten. Sie waren durch ein wundervolles goldenes Tor gegangen und hatten sich in einer lebhafteren Stadt wiedergefunden, als sie irgendeiner von ihnen je gesehen hatte. Vergesst Nowgorod, sagte Richard. Vergesst London und Paris und sogar Rom.
Wenn Kunst und Handel der Gradmesser von Zivilisation waren, dann kam Kiew direkt nach Konstantinopel. Wohin man auch schaute, man hatte mindestens ein Dutzend Kirchen im Blick. Insgesamt waren es vierhundert. Sie waren über einige Märkte gegangen und hatten sich von Jongleuren und Feuerschluckern und Musikern unterhalten lassen, die mit ihrer Flötenmusik Schlangen beschworen. Auf den belebten Straßen und Plätzen hatten sie sich an Chasaren und Griechen und Wenden und Osseten und Kirgisen und Armeniern und Leuten aus Weltgegenden vorbeigedrängt, von denen nicht einmal Hero je gehört hatte. Ein Monat würde nicht ausreichen, um auch nur die Hälfte von Kiews Sehenswürdigkeiten kennenzulernen.
Vallon lauschte diesen Lobreden auf einer Bank, den Rücken an die Hauswand gelehnt und die Beine weit von sich gestreckt. Er lächelte schief. «Nun, ihr werdet wohl noch eine Menge mehr davon besichtigen, bevor wir hier wegkommen.»
«Habt Ihr keinen Lotsen gefunden?»
«Niemand will uns zum Schwarzen Meer bringen. Vasili hat die Wahrheit gesagt, und dieser Zöllner war nur hinter unserem Silber her. Kein Mensch unternimmt um diese Jahreszeit noch die Fahrt nach Süden. Abgesehen von der Schwierigkeit, die Stromschnellen zu bewältigen, könnten die Lotsen auch erst nächsten Sommer nach Kiew zurückkehren. Ungefähr in einem Monat friert der Dnjepr zu und taut erst im März wieder auf.»
«Und was machen wir jetzt?»
«Hero und ich versuchen es morgen noch einmal. Wenn wir wieder nichts erreichen, müssen wir uns unseren eigenen Weg suchen.» Vallon zog seine Beine zurück und grinste. «Wir sind über eisige Ozeane gesegelt, durch die Wälder des Nordens gezogen, und haben namenlose Flüsse bewältigt. Wer braucht schon einen Lotsen?»
Am nächsten Morgen arbeiteten Hero und er sich am Kai entlang, fragten in jeder Herberge, jedem Gasthaus und jeder Garküche nach. Die Antwort war stets ein glattes Nein oder ein Kopfschütteln. Einmal sahen sie den Zöllner, doch er verzog sich, bevor sie ihn ansprechen konnten. Zur Mittagszeit waren sie zurück im Haus und teilten sich in dem staubigen Palas etwas Brot und Wein. Ein Ruf des russischen Haushälters kündigte Besuch an.
Ihr Besucher war ein Sklavenjunge, der ihnen auf Griechisch erklärte, dass sein Meister, Fyodor Antonovich, vor der Treppe wartete und sie in Geschäftsangelegenheiten zu sprechen wünsche.
«Er soll heraufkommen», sagte Vallon und zu Hero, der übersetzt hatte, «du übernimmst das Reden.»
Bald ertönte ein Keuchen auf der Treppe, und ein kleiner, fetter Mann tauchte auf, dem die Bestechlichkeit aus jeder Pore zu triefen schien. Seine schwarzen Augen und Hängebacken verstärkten den Eindruck von Unzuverlässigkeit noch. Sein Blick wanderte zwischen Hero und Vallon hin und er, als wolle er entscheiden, wen von beiden er übers Ohr hauen sollte.
«Chairete, o philoi.»
«Kyrie, chaire», gab Hero zurück. «Empros.»
Fyodor schob sich in den Raum. «Ich habe gehört, dass Ihr einen Empfehlungsbrief von meinem geschätzten Freund Herrn Vasili von Nowgorod habt.»
«Es stimmt, dass wir mit seinen guten Wünschen nach Süden reisen.»
Fyodor nahm Heros Hand und küsste sie. Mit zitternden Fettwangen tat er das Gleiche bei Vallon. «Jeder Freund meines teuren Freundes Herr Vasili ist auch mein Freund.»
Hero deutete auf die Bank. «Bitte.»
Fyodor ließ sich vorsichtig nieder. «Man hat mir gesagt, Ihr seid auf dem Weg nach Konstantinopel, könnt aber keinen Lotsen finden.»
Hero zuckte mit den Schultern. «Wir haben mit der Suche gerade erst angefangen.»
Fyodor sah an ihm vorbei. Vallon stand am Fenster, sein Gesicht lag im Schatten. «Wie viele Kämpfer habt Ihr?»
«Ein Dutzend.»
«Erfahrene Krieger?»
«Bis zum letzten Mann hartgesottene Kämpfer.»
Fyodor warf erneut einen Blick auf Vallons hagere Gestalt.
Hero beugte sich vor. «Vielleicht wärt Ihr so freundlich uns mitzuteilen, wo sich unsere Interessen überschneiden.»
«Natürlich, natürlich.» Fyodor tippte sich an die Stirn. «Ich habe eine Ladung erstklassiger Sklaven nach Konstantinopel zu bringen. Die Sklaven sind aus Petschora, das liegt weit im Nordosten, und sie sind nicht rechtzeitig in Kiew angekommen, um mit der Sommerflotte mitsegeln zu können. Um nur drei Tage haben sie die Flotte verpasst.»
«Wie ärgerlich.»
Fyodor sah Hero mit leidvoller Miene an. «Eine Katastrophe.»
«Ach?»
Wie sich herausstellte, war durch dieses Missgeschick ein umfangreiches Handelsgeschäft ins Stocken geraten. Die Sklaven sollten an einen Geschäftspartner in Konstantinopel gehen. Für den Erlös hatte Fyodor geplant, Seidenstoffe und Ikonen zu erwerben und sie an den Kiewer Adel zu verkaufen. Er breitete die Arme aus. «Versteht Ihr nun, vor welchem Problem ich stehe? Bevor ich die Sklaven verkauft habe, kann ich die Seidenstoffe nicht einkaufen.»
«Warum verkauft Ihr die Sklaven nicht in Kiew? Hier erzielt Ihr möglicherweise keinen so hohen Preis wie in Konstantinopel, aber einen Gewinn macht Ihr bestimmt.»
«Es ist kompliziert», sagte Fyodor. «Sehr kompliziert.» Einen Moment lang ruhte sein Blick auf dem Weinkrug. Er seufzte. «Ich habe die Sklaven mit Geld erworben, das ich mir bei meinem byzantinischen Partner geliehen habe. Es handelt sich um einen kurzfristigen, hochverzinsten Kredit. Ich hatte vor, ihn innerhalb von sieben Monaten zurückzuzahlen, eben sobald die Sklaven in Konstantinopel angekommen wären. Zusammen mit dem Gewinn aus dem Verkauf der byzantinischen Waren habe ich mir eine gute Rendite ausgerechnet. Aber wegen dreier Tage sind aus den sieben Monaten zwölf geworden, und wenn ich auf die Handelsflotte des nächsten Jahres warten muss, verdiene ich achtzehn Monate lang keinen Penny. Und stellt Euch vor, was ich am Ende für Zinsen zahlen muss. Außerdem muss ich natürlich für den Unterhalt der Sklaven aufkommen. Wenn ich sie nicht diesen Monat losschicke, bin ich ruiniert.»