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Die beiden Lotsen waren Brüder, sehnige Männer mit Gesichtern wie Trockenfeigen. Der eine hieß Igor, der andere Kolzak. Igor musste irgendeine Verletzung erlitten haben, die sein Gesicht in wirre Falten absacken ließ, wenn er die Muskulatur entspannte. Es wirkte, als seien die Sehnen durchschnitten worden, die seine Mimik steuerten. Die Männer standen vor Vallon und Hero, doch ihre Blicke irrten immer wieder zu Fyodor hinüber.

«Wie gut kennt ihr den Fluss?», fragte Hero.

«Wir fahren seit unserer Kindheit auf dem Dnjepr», erwiderte Kolzak. «Vor uns war unser Vater Lotse und sein Vater vor ihm. Wir kennen jeden Stein und jeden Strudel, jeden Felsvorsprung und jede Stromschnelle.»

«Wie weit erstrecken sich die Stromschnellen?»

«Über fünfzig, sechzig Werst», sagte Kolzak schulterzuckend, um anzudeuten, dass die Länge der Stromschnellen nicht das größte Problem war.

Etwa dreißig Meilen, rechnete Hero. «Also dauert es mehr als ein oder zwei Tage, um durchzukommen.»

Die Lotsen starrten ihn an. Dann lachte Kolzak auf. «Die Schiffsverbände brauchen eine Woche dafür.»

«Eine Woche!»

«Manchmal auch länger. Es gibt neun Stromschnellen, und wir müssen die Schiffe an sechs davon vorbeitragen. An manchen Stellen müssen die Schiffe vom Ufer aus weitergezogen, an anderen mit Seilen und Stangen über Felsen manövriert werden. Und an der gefährlichsten Stromschnelle – ‹Die Unersättliche› heißt sie – müssen die Sklaven zehn Werst zu Fuß oben am Rand der Schlucht entlanggehen. Allein das dauert schon einen ganzen Tag.»

Hero musste nicht mit Vallon reden, um zu wissen, wie er darauf reagieren würde. Er wandte sich an Fyodor. «Das geht nicht.»

Fyodor lachte hektisch. «Die Lotsen reden von den großen Schiffen der Sommerflotte. Mit kleineren Schiffen ist dieses ganze Hochstemmen und Tragen überflüssig. Kolzak und Igor werden Euch durch die Stromschnellen bringen, ohne dass Ihr einen Fuß an Land setzen müsst. Sie kennen den Fluss so gut, dass sie ihn im Schlaf hinunterfahren können.» Er klopfte den Lotsen auf die Schulter. «Stimmt’s, Männer?»

Sie starrten auf ihre Füße. «Ja, Meister.»

Hero wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagen würden, solange Fyodor dabei war. «Und was ist mit den Nomaden?»

«Das habe ich Euch doch schon gesagt. Die Kumanen sind weg. Sie sind wie die Schwalben, man sieht sie nur im Sommer.»

«Lasst die Lotsen antworten.»

Kolzak trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. «Es stimmt, dass die Kumanen im Winter vom Fluss wegziehen. Aber das bedeutet nicht, dass sie keine Bedrohung darstellen. Sie können überall und jederzeit auftauchen.»

«Sind sie so gefährlich, wie die Leute sagen?»

Igor antwortete mit überraschender Wortgewandtheit. «Sie verschlingen das Land, als wäre es Fleisch, das man den Wölfen hingeworfen hat. Sie säen auf unseren Feldern Pfeile aus. Sie halten mit ihren Schwertern blutige Ernte unter unseren Jungen, dreschen unsere erwachsenen Kämpfer mit Eisenflegeln und bauen Heuschober aus ihren Totenschädeln. Sie belästigen uns wie Fliegen, die man immer wieder vertreiben, aber niemals loswerden kann.»

Fyodor lachte und packte Igor am Arm. «Komm, komm. Das sind Menschen, keine Teufel.»

«Wann können wir ablegen?»

«Sobald Ihr wollt. Meine Schiffe warten in Vitichev, eine Tagesreise flussabwärts, das ist der Sammelplatz der Sommerflotte.»

Hero sah Vallon an. «Er sagt, wir können losfahren, wann immer Ihr bereit seid.»

«Ich bin jetzt bereit.»

XLI

Es wurde dunkel, als sie bei dem Treffpunkt in Vitichev ankamen. Vallon musterte den Ort von der Flussmitte aus. Unter dem trüben Himmel wirkte die mit Lattenzäunen eingefriedete Siedlung düster und abweisend. Dutzende von Schiffen lagen dicht an dicht auf einem Dock, manche halb überschwemmt, andere wurden gerade ausgeschlachtet. Zwei kleine Galeeren, die schon bessere Tage gesehen hatten, ankerten am Kai und hatten je drei Pferde an Bord. Fyodors Sklaven und Soldaten warteten am Ufer. In der aufziehenden Dämmerung wirkten die Gesichter der Sklaven fahl wie Leichentücher. Fyodor winkte zu ihnen hinüber. Die einzigen anderen Menschen in Sichtweite waren vier Gestalten, die zusammen mit einem Reiter am Ende des Kais standen.

«Hero und ich gehen zu Fyodor», bestimmte Vallon.

Sie stiegen an einer Leiter den Kai hinauf. Die Sklaven gehörten zu einem erstaunlich bleichgesichtigen Volk, und ihr Haar war weiß wie Schwanengefieder. Alle waren Kinder, das älteste kaum halbwüchsig, die jüngsten allenfalls vier oder fünf Jahre alt. Sie hockten in kleinen Gruppen zusammen, hatten die Arme vor der Brust gekreuzt, wurden von bösem Husten geschüttelt und starrten die Fremden ohne jegliche Neugier oder Hoffnung an. Die Soldaten waren beinahe ebenso teilnahmslos. Sie machten einen liederlichen, unwilligen Eindruck, als wären sie gegen ihren Willen zum Dienst gezwungen worden, ihre Kleidung war schäbig, ihre Waffen waren von schlechter Qualität.

«Das nennt Ihr Soldaten?», sagte Vallon angewidert. «Ich dachte, es handelt sich um eine wertvolle Fracht.»

«Willkommen, willkommen», rief Fyodor. «Willkommen.»

«Wie seid Ihr an diese Kinder gekommen?», fragte ihn Hero.

«Meine Mittelsmänner haben sie ihren Eltern abgekauft.»

«Ihre Eltern haben sie verkauft?»

Fyodor zog die Mundwinkel nach unten. «Die letzte Ernte ist sehr schlecht ausgefallen. Sie wären verhungert, wenn ich sie nicht gerettet hätte.»

«Sie sehen aber trotzdem sehr verhungert aus.»

Fyodor machte eine wegwerfende Handbewegung. «Wenn ich ihnen noch mehr zu essen geben würde, stünden meine Ausgaben in keinem angemessenen Verhältnis mehr zu meinen Einnahmen.»

Hero verzog vor Abscheu das Gesicht. «Wozu werden sie eingesetzt werden?»

«Als Engel.»

«Als Engel?»

«Sehen sie etwa nicht genau danach aus? Die meisten der Jungen werden am kaiserlichen Hof als Eunuchen dienen. Die Mädchen …» Fyodor hob die Augenbrauen und zog die Schultern hoch.

Vallon sah zu der Gruppe am Ende des Kais hinüber. «Wer ist der Reiter?»

Fyodor gab vor, die Männer noch nicht bemerkt zu haben. «Ach ja. Das ist ein sehr wichtiger Mann in Kiew.»

«Was tut er hier?»

Fyodor schien über seine Antwort nachdenken zu müssen. «Ihm gehören die Schiffe.»

«Und die Sklaven bestimmt auch», erklärte Vallon Hero. «Wir haben uns etwas vorlügen lassen. Sag dem fetten Heuchler, er soll die Schiffe beladen.»

Fyodor versetzte einem der Soldaten einen Stoß, der daraufhin begann, die Sklaven auf die Galeeren zu treiben. Dann nahm der Händler Hero an den Händen und sah ihm bedauernd in die Augen. «Ihr habt mein ganzes Mitgefühl. Dieser Anführer, den Ihr da habt, ist ein grausamer Mann.»

Sie ließen die Stadt hinter sich und orientierten sich an den nächtlich-hellen Uferstreifen, die an angelaufenes Silber erinnerten. Sie schliefen in den Booten und wachten wie zerschlagen wieder auf. Drei Tage hatten nicht genügt, um die Energiereserven wieder aufzufüllen, die sie auf ihrer dreimonatigen Reise verbraucht hatten.

Noch vor der Mittagszeit kamen sie an der Einmündung des Nebenflusses vorbei, der ostwärts nach Perejaslaw führte, der letzten Stadt auf dem Gebiet des Kiewer Rus. Unterhalb des Zusammenflusses lagen keine Städte mehr, nur noch einzelne Gehöfte und karge Felder, die dem trockenen Kiefernwald abgerungen worden waren. Danach verging Nacht für Nacht, ohne dass auf dem Fluss ein von anderen Menschen verursachtes Geräusch zu hören war, und ihre Lagerfeuer bildeten die einzigen Lichtinseln in der Dunkelheit.