Выбрать главу

«Verstanden, aber wir brauchen Wayland dringender als er uns. Am besten lässt man ihm seinen Willen.» Raul rülpste laut, schulterte den Verpflegungskorb und drehte sich wie ein dämonischer Straßenhändler jäh um. Nachdem Vallon einen Moment lang unschlüssig und ärgerlich dagestanden hatte, folgte er ihm.

Wayland ließ sich Zeit. Er wartete, bis die Sonne aufging und das Wolkenmeer rosa färbte, bevor er den Käfig mit dem Hühnerhabicht öffnete. Das Tier funkelte ihn an, ruckte mit dem Kopf, und erhob sich in die dunstige Luft. Schon am Abend würde der Vogel wieder so wild sein wie an dem Tag, an dem ihn Wayland eingefangen hatte. Dann ließ Wayland die Wanderfalken frei. Er hatte sie seit Sir Walters Weggang vor mehr als einem Jahr nicht mehr fliegen lassen. Sie hatten ihre Tage im Freigehege verbracht, wo sie die Flügel spreizten und ihre wilden Artgenossen beobachteten, die mit dem Wind segelten. Das Weibchen flog schwerfällig und landete auf dem Wachturm, doch der Terzel schwang sich in die Lüfte, als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet und als wisse er genau, welche Richtung er einschlagen musste. Steigend und sinkend flog er, ein dunkler, flackernder Stern, den Wayland mit den Augen verfolgte, als trüge er all seine Hoffnungen und Träume mit sich. Unbewegt sah er dem Vogel nach, bis er im Himmel verschwunden war.

Die Flüchtlinge hatten mittlerweile das nächste Meilenkastell des Römerwalls erreicht. Vallon drehte sich zu Wayland um und winkte, dann ließ er den Arm sinken und führte die bunt zusammengewürfelte Truppe weiter. Als sie außer Sicht waren, ging Wayland in den Hof der Festung. Zwischen den langen Schatten wirkten die Erhebungen und Senken in dem Innenhof wie Gräber. Sein Blick wanderte über die einsamen Wälle. Er klatschte in die Hände, und der Hall wurde von den Mauern zurückgeworfen wie ein Echo durch die Zeiten. Er kraulte den Hund. Jetzt sind nur noch du und ich übrig.

Dann trat Wayland stirnrunzelnd wieder durch das Tor nach draußen. Schwaches Glockenläuten verriet ihm, dass ihre Flucht entdeckt worden war. Er setzte sich auf den Boden und stellte sich die Ereignisse in der Burg vor – die verschlafenen Soldaten fluchten, während sie sich mit dröhnenden Kopfschmerzen ungeschickt an ihren Rüstungen abmühten. Ihre Pferde waren erschöpft von der Jagd des Vortages, aber die Normannen würden Hunde einsetzen, um die Flüchtlinge aufzuspüren. Sie würden nicht weit kommen. Und inzwischen lichtete sich auch der Nebel.

Wayland schulterte sein Bündel und machte sich auf den Weg den Hügel hinunter zum South Tyne, auf den er mehrere Meilen flussaufwärts treffen würde. Er hatte keine Skrupel, die Flüchtlinge im Stich zu lassen. Vallon und Hero bedeuteten ihm nichts, und Richard war ein Normanne und deshalb ein Blutsfeind. Raul wünschte er zwar nichts Böses, doch er hegte auch keine freundschaftlichen Gefühle für ihn. Er hatte keine Freunde. Er brauchte keine Freunde. Er war wie der Habicht, ein Schatten im Wald, der nur flüchtig den Blick kreuzte.

Davon abgesehen gab es nichts, was er zu ihrer Rettung tun konnte. Er hatte Vallons Bitte nur erfüllt, weil sie seinen eigenen Zwecken diente. Ihre Flucht würde die Normannen ablenken, während er selbst entkam. Bis zum Abend, wenn die anderen irgendwo in Stücke gehackt würden, hätte er sich im dichten Wald in Sicherheit gebracht.

Doch als ob eine unsichtbare Kraft seine Glieder beschwerte, wurden seine Schritte immer langsamer, bis er schließlich stehen blieb. Der Hund beobachtete ihn mit aufgestellten Ohren. Wayland blickte zurück zum Römerwall und dann hinunter in das Tal. Dann beugte er sich vor und spuckte aus. Der Hund nahm seine nächste Bewegung vorweg und rannte den Hügel hinunter. Doch Wayland pfiff nach ihm und ging zurück zum Wall. Ich tue es nicht für die Fremden, sagte er sich. Ich tue es für Drogos Gesichtsausdruck, wenn ihm klar wird, wer ihn überlistet hat.

Bis er die anderen eingeholt hatte, war es heller Tag geworden, und nur noch wenige Nebelschwaden hingen in den Talsenken. Nach allen Richtungen erstreckte sich eine gleichförmige, flache Landschaft, in der kaum ein Baum wuchs.

«Wir müssen von dem Wall herunter», sagte Vallon keuchend.

Wayland kauerte sich hin und legte das Ohr auf das alte Pflaster.

«Wie weit hinter uns sind sie?»

Wayland deutete auf ein Meilenkastell und hob zwei Finger.

Er trieb die Gruppe an und konnte kaum glauben, wie langsam sich andere Menschen bewegten. Sie hatten das nächste Kastell beinahe erreicht, als er stehen blieb und einen Finger auf die Lippen legte. Gleich darauf hörten es alle – fernes Hundegebell. Hero und Richard stürmten weiter und warfen angsterfüllte Blicke über die Schulter. Als sie über eine Erhebung kamen, flüchtete eine erschreckte Schafherde vor ihnen quer über ein eingefriedetes Gelände. Eng aneinandergedrängt blieben die Schafe stehen, die Mutterschafe stampften unruhig, und alle Tiere blickten in Richtung des Walls. Zwei bösartig wirkende Hunde flogen pfeilschnell über das Gelände. Dann tauchten hinter einem Steinhaufen ein Junge und ein Mädchen auf und starrten die Flüchtlinge an.

«Das hat uns noch gefehlt», stöhnte Hero.

Die Kinder rannten auf die Schafe zu, schwenkten Weidenruten und riefen dabei etwas. Darauf schwenkten die Hunde ab und trieben die Herde durch eine Zaunlücke in eine vom Regen tief ausgewaschene Geländefurche.

Wayland nahm Raul und Hero ihre Umhänge ab. Richard wich vor ihm zurück. «Gib ihm den Umhang», sagte Vallon und streifte seinen eigenen ebenfalls ab.

Wayland schob ihn an den Rand des Walls und deutete auf die Geländefurche.

«Er will, dass wir den Schafen folgen. Schnell, bevor die Soldaten in Sicht kommen.»

Wayland packte Raul am Arm und beschrieb ihm mit Gesten den Weg, den sie nehmen sollten. Nach Süden bis zum Fluss und dann nach Westen zur ersten Furt. Auf der anderen Seite folgt ihr weiter dem Fluss, bis ihr an den Zufluss eines Stroms aus Süden kommt. Dann geht ihr das Tal hinauf, bis sich der Fluss teilt. Und dort wartet ihr auf mich.

Raul schlug Wayland zum Zeichen, dass er verstanden hatte, auf die Schulter, zog Richard mit sich und sprang vom Wall herunter. Wayland kümmerte sich nicht weiter um sie, band ein paar Umhänge an seinen Gürtel und die übrigen um den Hals seines Hundes. Dann zog er aus seiner Tasche ein Behältnis mit einer Mixtur aus Moschus und Rizinus. Mit dieser übelriechenden Schmiere bestrich er seine Schuhe. Das Bellen und die Rufe kamen näher.

Der nächste Abschnitt des Walls verlief schnurgerade. Wayland ließ sich auf der Südseite in den Graben hinunter und verfiel in leichten Trab. Der Hund hielt genau Schritt. Sie zogen an einem Meilenkastell vorbei, das nächste ragte vor ihnen auf wie ein fauler Backenzahn. Wayland stieg den halbzerfallenen Turm hinauf und legte sich mit dem Gesicht in die Richtung, aus der er gekommen war, auf den Boden. Seine Atmung beruhigte sich. Auf einen Stein neben ihm hatte ein gelangweilter oder heimwehkranker Legionär eine Gebet oder eine Obszönität oder eine Liebeserklärung gekratzt. Eine Lerche jubilierte so weit über ihm im weiten Blau, dass Wayland sie nicht sehen konnte – sie singt vor den Toren des Himmels, hätte seine Mutter gesagt.

Als Wayland vom Turm hinabspähte, sah er in einiger Entfernung zu beiden Seiten des Walls wie schwarze Punkte Reiter in der Landschaft. Einen, zwei, drei. Sie verschwanden in einer Niederung, und neue tauchten auf. Als keine Reiter mehr nachkamen, hatte Wayland dreizehn gezählt und zusätzlich vier Jagdhunde.

Die Hunde hielten an der Stelle, an der die Flüchtlinge vom Wall abgebogen waren, und schnupperten am Boden. Einer rannte auf die Schafweide, doch die anderen folgten ihm nicht. Ihr Gebell wurde lauter. Ein Soldat trieb den Hund von der Schafweide mit einem Peitschenhieb zurück zu den anderen. Die Meute zog weiter.

Wayland stieg schnell vom Turm. Vor ihm teilte sich der Weg, eine breite Karrenspur führte in ebeneres Gelände Richtung Süden, der Wall dagegen beschrieb eine Spitzkehre um eine Felswand mit steilem Abhang an der Nordseite. Ein mit Seen durchsetztes Moorgebiet zog sich bis zu einem Wald mit alten Kiefern hinauf. Vor Jahren war Wayland mit seinem Vater in diesem Wald gewesen, und sie hatten gemeinsam an genau jener Stelle gestanden.