«Ich sehe ihn. Verteilt euch. Lasst ihn nicht über die Flanken entkommen.»
Ein umgestürzter Baum versperrte Wayland den Weg. Der Stamm war zu dick, als dass er einfach darüber hätte hinwegspringen können, und zu lang, um außen herum zu laufen. Er stieg auf den Stamm, und gerade, als er auf der anderen Seite herunterspringen wollte, traf es ihn wie ein Keulenschlag zwischen die Schultern.
«Ich hab ihn! Hab ihn genau erwischt!»
Keuchend lag Wayland auf der anderen Seite des Baumstamms. Er wusste, dass er schwer getroffen worden war. Die Tatsache, dass er keinen Schmerz spürte, hatte nichts zu bedeuten. Er hatte einen Hirsch gesehen, der mit einem Pfeil im Herzen noch hundert Schritt weitergeflüchtet war, bevor die Beine unter ihm nachgaben. Wayland spuckte Sand aus und schleppte sich mit stechendem Atem weiter. Das Gelände fiel in Richtung der Schlucht steil ab, und er musste sich an den Bäumen entlanghangeln, um nicht haltlos den Hang hinunterzutaumeln. Eine abgestorbene Birke knickte unter seinem Griff. Mit rudernden Armen stolperte er abwärts. Die Schlucht gähnte ihm immer schneller entgegen. Er warf sich zu Boden und schlidderte mit den Füßen voran durch feuchten Mulch. Sein rechtes Knie prallte böse verdreht auf einen Baumstumpf. Er krallte sich mit den Händen in den Boden, und es gelang ihm, nur noch ein paar Fuß von der Absturzkante entfernt, zum Halt zu kommen. Als er sich umdrehte, sah er vier Normannen, die zu Fuß den schlüpfrigen Abhang herunterhasteten. Er stand auf. Der Schmerz in seinem Knie ließ sein Bein unter ihm einknicken. Er musste seinen Plan aufgeben, in die Schlucht hinunterzuklettern und dort abzuwarten, bis es vollkommen dunkel geworden war.
Er hinkte nach rechts weiter, flussabwärts, auf den Topf zu. Die Felsen dort neigten sich über den Weiher, und solange er denken konnte, war die Lücke zwischen ihnen von einer umgestürzten Esche überbrückt worden. Er dachte an das entsetzte Gesicht seiner Mutter, als sie ihn zusammen mit Edith auf dieser Brücke bei einer Mutprobe entdeckt hatte. Aber das war Jahre her. Inzwischen konnte der Baum verrottet und durchgebrochen sein. Aus dem Augenwinkel sah er zwei berittene Normannen, die oben auf der Kuppe des Abhangs mit ihm Schritt hielten.
Der Baum war noch da, überzogen mit einem Teppich aus Moos und Pilzen. Wayland warf einen Blick über die Schulter, um festzustellen, wie viel Zeit ihm blieb. Noch verwundet und hinkend war er schneller als die Soldaten, die ihn zu Fuß verfolgten. Er tastete nach seinem Rücken. Ein Armbrustbolzen hatte seinen Beutel durchbohrt. Als er die Hand wieder vors Gesicht hob, war Blut daran. Die Wunde musste tödlich sein, aber er konnte nicht anders, als all seine übriggebliebenen Kräfte einzusetzen, um sich vor den Verfolgern in Sicherheit zu bringen. Es war der Instinkt eines waidwunden Tieres.
Die Rufe der Soldaten wurden lauter. Die Reiter oben auf dem Hang sagten den anderen die Richtung an. Einer von ihnen blieb stehen und legte mit seiner Armbrust an. Wayland schaute ihm dabei zu, als wäre er in einem Traum gefangen. Der Bolzen schoss aus der Führungsschiene. Wayland ließ sich kopfüber fallen und hörte den Bolzen vorbeizischen, bevor er auf der anderen Seite der Schlucht am Fels zersplitterte. Er warf sich auf den Eschenstamm. Das schwammige Holz löste sich in großen Fetzen ab. Fünfzig Fuß darunter rauschte der Fluss in die schwarzen Wasser des Topfs, in dem er die Leiche seiner Schwester entdeckt hatte.
Ohne die Schmerzen in seinem Bein zu beachten, lief er schnell und möglichst vorsichtig auftretend über den Stamm. Als er auf der anderen Seite heruntersprang, zerrte ein Armbrustbolzen am Stoff seines Ärmels. Auf dieser Seite der Schlucht bestand das Unterholz aus einem dichten Gewirr von Stechpalmen und Haselsträuchern. Wayland brachte sich in Deckung und schleppte sich den Hang hinauf bis zu einer Erle. Er ließ sich mit dem Rücken gegen den Baum sinken und schluchzte vor Erschöpfung und Schmerz. Übelkeit stieg in ihm auf, und zugleich verschwamm alles vor seinen Augen. Er hatte wohl so viel Blut verloren, dass er bald das Bewusstsein verlieren würde. Der Hund schnupperte an ihm und begann an seinem Rücken herumzulecken. Wayland erschrak so, dass er dem Hund einen Schlag auf die Schnauze gab. Das Tier zuckte zurück, legte sich mit dem Kopf auf den Pfoten hin, und bedachte Wayland mit vorwurfsvollen Blicken.
Wayland erriet, was in dem Hund vorging. Zögernd tastete er nach dem Beutel. Merkwürdig. Er hatte erwartet, dass dieser von dem Armbrustbolzen an seinen Rücken genagelt wäre, doch er ließ sich ganz leicht bewegen. Er griff über seine Schulter, packte den Armbrustbolzen und zog. Der Beutel löste sich. Mit einem Schlag verstand er, was passiert war. Er warf den Kopf zurück und lachte. Verstört von diesem fremden Geräusch, rückte der Hund von ihm ab und rollte sich ein gutes Stück entfernt zusammen.
Wayland befreite sich von dem Beutel. Der untere Teil war blutgetränkt und roch süßlich. Er schnürte den Beutel auf, fuhr mit der Hand hinein und schöpfte eine Handvoll blutigen Haferbrei heraus. Das geronnene Blut stammte von dem Eber, den sie am Vortag erlegt hatten. Wayland hatte das Blut in eine Schafsblase gefüllt, weil er es für einen Pudding verwenden wollte. Er streckte dem Hund das rötliche Gemisch entgegen. Doch Waylands Stimmungsumschwünge hatten das Tier misstrauisch gemacht, und es blieb, wo es war.
Wayland hatte das Zeitgefühl verloren. Er konnte nicht einschätzen, wie lange er schon an die Erle gelehnt dasaß. Vermutlich hatten die Normannen die Brücke überquert und schlichen sich zu ihm herauf. Er kroch ein Stück aus der Deckung. Die Soldaten waren immer noch auf der anderen Seite, vier von ihnen kauerten hinter Bäumen in Deckung, und der Jagdmeister kniete auf dem Boden.
«… blutet wie ein angestochenes Schwein. Der wird nicht mehr weit kommen.»
Drax berührte die Hand des Jagdmeisters, musterte die rötliche Verfärbung seiner Finger, und beugte sich dann hinunter, um sie an ein paar halbverfaulten Blättern abzuwischen. Er starrte zur anderen Seite der Schlucht.
«Es ist fast dunkel», sagte einer der Soldaten. «Und er hat den Hund bei sich. Wahrscheinlich ist er zum Sterben in irgendeine Höhle gekrochen. Warten wir bis zum Hellwerden.»
Drax sah zu den Bäumen empor, die in den dunkler werdenden Himmel aufragten. «Roussel war mein Waffenbruder. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, mir die Leiche seines Mörders zu holen. Rufus, komm mit. Und ihr anderen gebt uns Deckung.»
Drax kletterte auf den Stamm und begann sich darauf vorwärtszuschieben. Schwert und Schild hielt er in den seitlich ausgestreckten Armen, um das Gleichgewicht zu wahren. Wayland beobachtete ihn. Er wartete, bis Drax in der Mitte angekommen war, bevor er den Bogen spannte. Es war ein schwieriger Schuss, in einem schräg abwärts gerichteten Winkel, und das Ziel war in dem diffusen Licht nur undeutlich zu erkennen. Er sah nicht, wohin sein erster Pfeil flog. Drax hatte das Zischen gehört, blieb stehen, und suchte schwankend das Gleichgewicht zu halten. Wayland ließ einen weiteren Pfeil abschnellen und schnalzte ärgerlich mit der Zunge, als das Geschoss neben Drax’ Füßen im Baumstamm stecken blieb.
«Kommt zurück!»
Rufus schaffte es mit trippelnden Schritten, sich in Sicherheit zu bringen, Drax drehte sich schwerfällig wie ein alter Mann um. Wayland suchte sich eine bessere Schussposition, doch er musste den Bogen nicht mehr spannen. Drax glitt aus. Seine Beine rutschten ihm unter dem Körper weg. Er ließ seine Waffen rechtzeitig fallen, um noch die Arme um den Baumstamm schlingen zu können. So hing er mit zappelnden Beinen da und versuchte, sich wieder hinaufzuziehen, aber das stark verrottete Holz bot keinen Halt. Einen Moment konnte er sich dank der schieren Kraft seines Entsetzens noch festklammern, dann stürzte er mit einem langgezogenen Schrei in die Schlucht.
Die Soldaten gaben keinen Laut von sich. Wie besiegte Geister zogen sie sich hinter ihren erhobenen Schilden in den Wald zurück. Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Wayland rücklings auf den Waldboden fallen und streckte die Glieder von sich. So lag er unbeweglich, während der Himmel schwarz wurde und allmählich Sterne durch das Kronendach der Bäume blitzten. Er begann zu frieren, bewegte sich aber noch immer nicht. Fledermäuse sausten über ihm durch die Luft. Neben ihm verschlang der Hund das blutige Haferbreigemisch. Wie Luftblasen stiegen die Bilder des Tages vor Wayland auf. Seit seine Familie niedergemetzelt worden war, hatte er jeden Tag von seiner Rache geträumt. Er hatte sich das berauschende Triumphgefühl ausgemalt, das ihn erfüllen würde. Doch nun, wo der Moment gekommen war, fühlte er gar nichts.