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Er überquerte den Fluss etwas weiter stromaufwärts und schickte den Hund voraus, um den Weg zu sichern. Als das Tier unaufgeregt zurückkehrte, war klar, dass die Soldaten abgezogen waren. Im Dunkeln brauchte Wayland lange, um die Gräber seiner Familie zu finden. Er kniete neben den unkrautüberwucherten Erdhügeln nieder und entzündete fünf Kerzen. Die Flammen beschworen Geister herauf. Sie schwebten um ihn; seine Mutter besorgt und missbilligend, sein Großvater frohlockend, Edith immer noch einsam und verängstigt.

Er konnte sie nicht wieder lebendig machen. Auch wenn er hundert Normannen tötete, würden sie nicht wiederkommen. Erinnerungen waren die einzige Brücke zwischen den Lebenden und den Toten. Er war zum Haus seiner Eltern zurückgekehrt, um diese Verbindung zu halten, doch jetzt, wo er da war, wurde ihm bewusst, dass die Wälder ihm nicht lange Schutz bieten würden. Diese Welt, die ihm als Kind so groß erschienen war, schrumpfte jedes Jahr ein Stück mehr. Die Normannen hatten ihn einmal gefangen; früher oder später würde es ihnen wieder gelingen. Um zu überleben, würde er weggehen müssen, über den Wasserfall im Westen in unbekannte Gebiete.

Einsamkeit überwältigte ihn. Zum ersten Mal seit Jahren sehnte er sich nach menschlicher Gesellschaft. Er dachte an die Flüchtlinge. Wenn sie seinen Anweisungen gefolgt waren, mussten sie jetzt ein paar Meilen flussauf ihr Lager aufgeschlagen haben. Wayland benutzte seinen Bogen wie eine Krücke, um sich aufzurichten, und dann stand er mit gesenktem Kopf da.

Geliebte Eltern und Großvater, liebe Brüder und Schwestern, verzeiht mir. Ich muss fort. Ich weiß nicht, wohin mein Weg mich führen wird, aber ich glaube nicht, dass ich noch einmal hierher zurückkehre. Doch wo immer ich auch hingehe, trage ich euch im Gedächtnis.

Dann hinkte er davon. Am Rand der Lichtung blieb er stehen und warf einen letzten Blick zurück. Die Kerzen flackerten als winzige Lichtpunkte in der Dunkelheit. Wenn sie ausgingen, wäre nichts mehr übrig, was einem Fremden verraten würde, dass hier einmal eine Familie gelebt hatte. Tränen verschleierten Waylands Blick. Er drehte sich um und ging weiter.

VIII

Hero und Richard saßen nebeneinander unter einer Decke. Das Feuer war bis auf eine einzelne, leckende Flamme heruntergebrannt. Raul lag schnarchend auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Vallon hatte irgendwo oben auf dem Steilhang zwischen den Bäumen Wachposten bezogen.

Hero versuchte Richard beizubringen, wie man den Breitengrad berechnete, indem man den Höhenwinkel des Nordsterns mit dem Astrolabium abmaß. Richard fiel es schwer, den richtigen Stern anzupeilen. «Nicht der», sagte Hero. «Weiter rechts. Zwischen dem Großen Bären und der Kassiopeia – das Sternbild, das aussieht wie ein W.»

«Ich glaube, jetzt weiß ich, welcher es ist», sagte Richard. «Ich dachte, er wäre heller.»

«Und jetzt halte das Astrolabium so ruhig wie möglich und richte den Zeiger aus.»

Richard drehte den Zeiger und spähte mit zusammengekniffenen Augen daran entlang.

«Lass mich mal sehen», sagte Hero und nahm Richard das Astrolabium aus den Händen. Er las die eingestellte Sternenposition von der Skala am Rand des Instrumentes ab. «Hmm, mehr als zehn Bogengrade daneben.»

«Was ist ein Bogengrad?»

«Das ist ein Kreisbogen, der dem 360sten Teil des Erdumfangs entspricht.»

Richard dachte einen Moment nach. «Du sagst, dass die Erde rund ist?»

«Natürlich ist sie das. Deshalb wirkt der Horizont gekrümmt, wenn man von großer Höhe aufs Meer schaut.»

«Ich habe das Meer erst einmal gesehen, da sind wir von der Normandie herübergesegelt. Mir war auf der ganzen Überfahrt schlecht.» Richard runzelte die Stirn. «Wenn die Erde rund ist, müssen wir also ganz oben leben. Sonst würden wir ja herunterfallen.»

«Eine Wespe kann auch rund um einen Apfel krabbeln, ohne herunterzufallen.»

«Sie haben aber auch mehr Beine als wir. Deshalb können sie sogar umgekehrt an einer Zimmerdecke entlanglaufen.»

«Es muss eine Kraft geben, die uns am Boden hält», sagte Hero. «Vielleicht ist es dieselbe Kraft, die dazu führt, dass meine Kompassnadel nach Süden und Norden zeigt.»

Richard seufzte in schläfriger Bewunderung. «Was du alles weißt. Erzähl mir noch mehr.»

Hero beobachtete, wie sich der Sternenhimmel um den Polaris drehte. Raul schnarchte laut auf und schmatzte im Schlaf mit den Lippen. «Es ist eher an der Zeit, dass du mir etwas erzählst. Warum bist du mit uns gekommen?»

«Ich musste dort weg. Auf der Burg hatte ich nichts mitzureden, nicht einmal, wenn es um meine eigene Zukunft ging.»

«Das habe ich nicht gemeint. Vallon interessiert sich nicht für deine Zukunft. Es muss etwas mit der Lösegeldforderung zu tun haben.»

«Hat er es dir nicht erzählt?»

«Wir hatten keine Gelegenheit, uns zu unterhalten. Ich wusste bis gestern Abend nicht einmal, dass wir aufbrechen.»

«Nicht so laut», knurrte Raul.

Richard rückte näher an Hero heran. «Lady Margaret hat Vallon davon überzeugt, eine Expedition nach Norwegen zu führen. Zuerst müssen wir uns die Gelder beschaffen. Deshalb ziehen wir zunächst nach Süden zu einem jüdischen Geldverleiher. Ich bin nicht befugt, dir zu sagen, in welcher Stadt. Vallon sagte, je weniger Personen davon wissen, desto sichererer ist es für uns alle.»

Obwohl er mit dieser Antwort gerechnet hatte, war Hero entsetzt. «Vallon geht nicht nach Norwegen. Warum sollte er sein Leben für einen Mann riskieren, den er nie gesehen hat – einen Mann, dessen Bruder versucht hat, uns umzubringen?»

«Vallon kann mit einem Teil des Geldes Handelsgeschäfte machen und den Gewinn behalten.»

«Das zeigt nur, wie schlecht du ihn kennst. Er ist Soldat, kein Händler. Das war bloß eine List, um zu entkommen. Wenn er das Geld deiner Mutter erst einmal hat, siehst du ihn nie wieder. Du hättest nicht aus der Burg fortlaufen sollen, ohne mit mir zu sprechen.»

«Aber er hat einen Eid geschworen.»

«Wer würde das nicht tun, wenn er damit seine Haut retten könnte? Denk nur an Walter und all seine Lügen. Jeder lügt, wenn es seinem Vorteil dient. Das weiß keiner besser als ich.»

«Du?»

«Von Anfang an war diese Reise nicht das, was sie zu sein schien.»

«Was meinst du damit?»

Nun konnte sich Hero nicht mehr zurückhalten. «Frag dich doch einmal, warum Meister Cosmas bereit war, sich für Walters Befreiung einzusetzen.»

«Du hast mir erzählt, er wollte Britannien noch kennenlernen, solange er lebte.»

«Walter besitzt etwas, das Cosmas haben wollte – etwas, das ihm Walter unter der Bedingung angeboten hat, dass Cosmas seine Freilassung erreicht.»

«Und was ist das?»

«Stell dir vor, ich würde dir erzählen, dass am östlichen Ende der Welt ein Reich liegt, das größer ist als alle anderen seit der Cäsarenherrschaft.»

«China? Davon habe ich schon gehört.»

«Nicht China. Es ist ein christliches Reich.» Hero klopfte auf sein Bündel. «Ich habe einen Brief, den der Herrscher dieses Landes geschrieben hat. Er ist an den Kaiser von Byzanz gerichtet.»

«Was steht in dem Brief?»

«Der Herrscher bietet an, eine Armee gegen die Türken und Araber zu führen. Aber das ist noch nicht alles. Zum Zeichen seiner Loyalität hat er zusammen mit dem Brief ein Geschenk geschickt – etwas, das die ganze Welt auf den Kopf stellen wird.»