In dem Moment stieß ein Mensch oder ein anderes Wesen in ihrer Nähe einen tiefen Seufzer aus. Hero und Richard klammerten sich vor Schreck aneinander. Raul hatte das Geräusch ebenfalls gehört. Er kauerte sich vors Feuer, blies in die Glut und entzündete eine Wachskerze, die in einem Horn steckte und so vor dem Wind geschützt war. Mit dieser Leuchte in der Hand schlich er vorwärts. Hero folgte ihm und stieß kurz darauf scharf die Luft aus, als er die gefletschten Zähne des Riesenhundes vor sich sah.
«Gib Vallon Bescheid», sagte Raul.
Hero hastete den Hügel hinauf. «Herr? Herr?»
«Hier drüben. Du machst genügend Lärm, um die Toten aufzuwecken. Und warum zum Teufel habt ihr einen Kerzenstock herumgeschwenkt?»
«Es ist Wayland. Er ist zurück.»
Raul nahm Vallon zur Seite und murmelte ihm etwas ins Ohr. Vallon sah auf Wayland hinunter, der ihn finster anblinzelte. Dann drehte er sich zu Hero und Richard um. «Wartet beim Feuer.»
«Irgendetwas stimmt nicht», flüsterte Hero. «Ich habe ihn noch nie so ernst gesehen.»
Richard warf einen Blick zu den dunklen Gestalten hinüber. «Erzähl deine Geschichte weiter. Was ist das für ein Geschenk?»
Nun bedauerte Hero seine Redseligkeit. «Nein, ich habe schon viel zu viel ausgeplaudert. Ich habe Cosmas mein Wort darauf gegeben, dass ich das Geheimnis niemandem verraten werde.»
«Nicht einmal Vallon?»
«Nicht einmal ihm.»
«Aber …»
«Sch!» Vallon kam zum Feuer zurück. «Vergiss, was ich über den Brief gesagt habe.» Vallon war nur noch ein paar Schritte entfernt. «Schwör es oder verzichte auf meine Freundschaft.»
«Also gut. Ich schwöre.»
Vallon starrte in die Glut und fing mit ausdrucksloser Stimme an zu sprechen. «Ich habe gehofft, dass wir sicher wären, wenn wir erst einmal aus Drogos Reichweite sind. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen, und da Richard sich für uns verbürgt hätte, bestanden sehr gute Aussichten, unseren Bestimmungsort zu erreichen. Aber das hat sich geändert. Wayland hat zwei Männer des Grafen umgebracht – Roussel und Drax.»
Raul spuckte ins Feuer.
«Ich weine keinem der beiden eine Träne nach. Aber es gibt kein schlimmeres Verbrechen, als einen Normannen zu töten. Von jetzt an wird sich jedes Schwert gegen uns heben. Richard, dein Name und dein Titel bieten keinen Schutz mehr. Wenn sie uns erwischen, wirst du neben uns aufgeknüpft. Am besten trennst du dich in der nächsten Stadt von uns. Erklär dem Grafen, wir hätten dich gegen deinen Willen gezwungen mitzukommen.»
Mit jämmerlicher Miene scharrte Richard mit dem Schuh auf dem Boden.
«Wayland hat die Normannen nur wenige Meilen von hier entfernt getötet», sagte Vallon. «Die anderen sind vermutlich auf dem kürzesten Weg zurück zur Burg geritten. Drogo wird vor Tagesanbruch die Verfolgung aufnehmen.»
Raul schnürte seine Kniehose auf und pisste ins Feuer. «Dann setzen wir uns am besten gleich in Bewegung.»
Vallon begann seine Sachen einzusammeln.
«Kommt Wayland mit?», fragte Hero.
«Er kann kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Der Schaden ist angerichtet.»
Wayland führte sie Richtung Südwesten über die Hügel. Im Licht der Sterne überquerten sie einen umzäunten Anger und tauchten beim ersten schwachen Dämmerschein am Osthimmel in ein bewaldetes Tal ein. Beim Aufstieg auf der anderen Talseite fächerte schon das Sonnenlicht zwischen den Stämmen hindurch. Es ging durch steiles Heideland mit windgepeitschten Wacholderbüschen. Die Sonne hatte nun mehr Kraft und wärmte ihnen den Rücken. Um sie sangen Brachvögel ihr wehmütiges Lied, und Birkhühner brachen gackernd aus dem Heidekraut. Erst am späten Vormittag ließ Vallon eine Rast zu. Alle waren vollkommen erschöpft. Nachdem sie etwas gegessen hatten, wies Vallon Wayland an, die Nachhut zu bilden und nach Verfolgern Ausschau zu halten. Der Franke führte die anderen an. Um die Mittagszeit befanden sie sich immer noch im Aufstieg, und jedes Mal, wenn sie dachten, sie hätten den Gipfel erreicht, ging es noch höher hinauf.
Vallon erreichte schließlich als Erster das Gipfelplateau. Vor dem Himmel zeichnete sich die gebeugte Gestalt eines alten Druiden ab, dessen Umhang hinter ihm im Wind flatterte. Doch als Vallon näher kam, wurde ihm klar, dass es sich um einen uralten Runenstein handelte, der mit dichten, zotteligen Flechten überzogen war. Vallon setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an den Stein, zog seine Stiefel aus und musterte die Blasen an seinen Fersen. Dann fuhr er wieder in die Stiefel und wartete, bis sich die anderen zu ihm heraufgekämpft hatten. Hero und Richard schafften es kaum noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Zuletzt erschien Wayland, der sich beim Gehen auf einen Stock stützte.
«Ist etwas von ihnen zu sehen?»
Wayland schüttelte den Kopf und ging an den anderen vorbei, um in westliche Richtung Ausschau zu halten. Vallon rappelte sich auf und stellte sich neben Wayland. Tief unter ihnen erstreckte sich ein weites Tal, wie ein Flickenteppich von Feldern und einem Geflecht aus Karrenwegen überzogen. Rauchfäden stiegen von Dutzenden Weilern in den Himmel. Auf der anderen Seite des Tales türmten sich schneebedeckte Berge, in deren gewundenen Ausläufern Seen blitzten. Gestalten, die an winzige Käfer erinnerten, krochen eine Straße entlang, die in nordwestlicher Richtung durch das Tal auf eine Ebene zu führte, die von einem schimmernden Meeresarm begrenzt wurde.
Vallon musterte Wayland. Der Falkner war ein gutaussehender Jüngling, groß und kräftig, mit blondem Haar und einem beunruhigend klaren Blick aus blauen Augen. Neugier und widerwillige Bewunderung besänftigten Vallons Ärger über Waylands mutwilligen Fehler. Es gehörte Mut dazu, zwei berittene normannische Kämpfer zu töten. Mehr als das, es gehörte eiserne Entschlossenheit dazu.
Wayland spürte Vallons Blick und wandte sich ihm zu. Nur wenige konnten Vallon direkt in die Augen sehen. Sie standen auf dem Rückgrat des Landes – rechts und links von ihnen fielen Ketten kahler Felsabhänge voller Schneefelder ab wie der Rumpf eines umgedrehten Bootes. «Schau dir meinen Ring an», sagte Vallon. «Heute morgen war der Stein so blau wie deine Augen. Jetzt ist er trüb geworden. Bald wird das Wetter umschlagen.»
Wayland betrachtete den Ring und sah dann zum Himmel hinauf. Er nickte, so als wolle er sagen, dass er selbst keine Hilfsmittel nötig hatte, um das Wetter vorherzusagen.
Sie folgten der Höhenlinie nach Süden und schlugen ihr Lager zwischen den geisterhaften grauen Aushubhaufen einer Bleimine auf, die schon zur Römerzeit aufgegeben worden war. Richard schlief mit dem Löffel in der Hand beim Essen ein und wurde wie ein Kind auf sein Lager gebettet. Am folgenden Morgen gingen sie in kaltem Nieselregen weiter nach Süden und begegneten den ganzen Tag lang keiner Menschenseele. Dieses Mal schliefen sie unter einem Felsüberhang in einem engen Gerölltal.
Die Dämmerung am Osthimmel sah aus wie Blut, das in trübes Wasser sickert. Den gesamten Vormittag lang zogen Regenschauer von Nordwesten heran. Die Flüchtlinge waren bald vollkommen durchnässt und froren jämmerlich, als sie hinter sich eine schwarze Wolkenwand gewahrten, die sich auf sie zubewegte. Die Wolken hüllten die Berge im Westen in Dunkelheit, dann krochen sie wie eine bedrohliche Seuche über das Tal.
Es gab auf dem Steilhang keinen Unterschlupf. Der Sturm traf sie von der Seite. Hagelkörner peitschten auf sie ein. Dann verwandelte sich der Niederschlag in Graupel und schließlich in Schnee, der ihnen die Augen verklebte und in Klumpen an ihren Schuhen haften blieb. Hero schützte sein Gesicht mit dem Ellbogen und arbeitete sich keuchend zu Vallon vor. Der heftige Wind blies seine Worte fort.
Vallon legte die Hand ans Ohr. «Ich kann dich nicht hören.»