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Hero errötete. «Ich glaube, er ist ein hochgeborener Engländer, dessen Land von den Normannen geraubt wurde. Nein, Herr, spottet nicht. Die Menschheitsgeschichte kennt viele Erzählungen von Adligen, die ihres Erbes beraubt in der Wildnis ausgesetzt wurden. Außer Romulus und Remus wären da Amphion und Zethos zu nennen, das waren Söhne von Zeus und Antiope, die von ihrem niederträchtigen Onkel in den Bergen zurückgelassen wurden. Und dann noch Poseidons Sohn, Hippothoon, der in Eleusis von wilden Stuten gesäugt wurde. Nicht zu vergessen Jason und Achill, die auf dem Berg Pilion von dem Zentauren Chiron unterrichtet wurden. Tatsächlich muss ich, wenn ich Wayland rennen sehe, an Homers Beinamen für Priamos denken: Podarkes – ‹leichter Fuß›.»

Vallon lachte. «Das genügt. Du hast deine Nase so lange in Bücher gesteckt, dass du Wahrheit und Phantasie nicht mehr unterscheiden kannst.» Er versetzte Hero einen freundlichen Klaps aufs Knie. «Du wirst mir fehlen.»

«Euch fehlen?»

In diesem Moment steckte Raul den Kopf durch die Tür und rief sie zum Essen. Am Osthimmel war der erste Stern aufgetaucht. Vallon kam auf die Füße und streckte sich. «Nun, um unseren Armbrustschützen zu zivilisieren, wird jedenfalls mehr nötig sein als ein Badezuber und ein Haarschnitt.»

«Er ist ein Grobian, aber im Grunde gutartig.»

«Ein Galgenvogel. Ich hatte schon hundert Männer wie Raul unter meinem Kommando, und davon habe ich einige aufhängen lassen. Für einen Penny und die Aussicht auf Beute würde er einem Wahnsinnigen in die Hölle folgen. Irgendwo in einem verlassenen Winkel dieser Welt wartet auf Raul ein namenloses Grab. Lass uns essen.»

Die anderen saßen schon am Tisch, als sie hereinkamen. Ulf beugte den Kopf über das Essen und murmelte ein Dankgebet. Die schlichte Zeremonie traf Vallon völlig unvorbereitet. Die Kehle wurde ihm eng, doch er schluckte das Gefühl hinunter. Ein Mann, dem so leicht die Tränen kommen, weint nur um sich selbst.

Richard hatte sich so weit erholt, dass er am Tisch sitzen und an einer Schale mit Brühe nippen konnte. Die anderen aßen einen Brei aus Hafer und Bohnen, in dem sich undefinierbare Knorpelstücke befanden. Das Brot war aus grob gemahlener Gerste mit zerriebenen Spelzen.

Das Mädchen beobachtete die Fremden in gespanntem Schweigen.

Hero stocherte in seiner Schale herum. «Was ist das?», flüsterte er. «Glaubst du, das ist ein Schweineohr?»

Raul lachte. «Irgendwas von einem Schwein ist es bestimmt.»

Hero stellte die Schale hin.

«Ich esse es, wenn du es nicht willst.»

«Dieses Mahl haben sich andere für uns vom Mund abgespart», sagte Vallon. «Zeig ein bisschen Respekt.»

Nach dem Essen führte Ulf sie in den Kuhstall. Vallon schlief sofort ein, ohne sich vom Wiederkäuen der Kühe und dem Gackern des Federviehs stören zu lassen. Unbestimmte Zeit später weckte in das Geflüster der beiden Brüder am Eingang des Kuhstalls. Er hörte Wayland über die anderen Schlafenden steigen. Er verließ den Stall mit seinem Bogen, den Hund auf den Fersen. Vallon zuckte mit den Schultern und schlief wieder ein.

Den Vormittag verbrachte er damit, nach den Verfolgern Ausschau zu halten, während Raul Hakon dabei half, die Steinmauer instand zu setzen. Hero blieb im Haus und übte mit Richard Schreiben. Am späten Vormittag kamen Wayland und Ulf mit ein paar Birkhühnern zurück, die sie an ihrem Balzplatz erlegt hatten, und einem Hasen, den der Hund verfolgt und getötet hatte. Sie legten ihre Beute auf den saubergewischten Tisch, und alle bewunderten das Stillleben.

An diesem Abend aßen sie Wildeintopf gewürzt mit Wacholder und wildem Thymian. Die Brüder brachten ein Fässchen Bier herbei, sodass sich das Essen zu einem regelrechten Festmahl entwickelte. Das Mädchen saß auf Rauls Knie, und er ließ für die Kleine eine Münze zwischen seinen Fingern verschwinden und hinter seinem Ohr wieder auftauchen. Selbst als er das Kunststückchen schon ungezählte Male vorgeführt hatte, wollte sie es noch einmal und noch einmal sehen.

«Wir sollten die Fastenregeln befolgen», sagte Richard.

Raul leerte seinen Becher und stellte ihn mit einem Knall auf den Tisch. «Ich habe in den letzten vier Tagen genug Buße getan, um meine Seele fürs ganze Leben zu reinigen.»

Vallon klopfte auf den Tisch. Alle Blicke wandten sich ihm zu. Raul setzte das Mädchen ab.

«Ich habe nicht viel zu sagen. Wir haben uns dem Schicksal so ausgeliefert, dass ich nicht vorhersehen kann, was der Morgen bringen wird, ganz zu schweigen von der nächsten Woche. Unser Erstes wird sein, einen Geldverleiher aufzusuchen. Ich werde euch nicht sagen, wo er sein Geschäft betreibt, damit keiner etwas verraten kann, falls er gefangen wird. Sollten wir diese Hürde meistern, will ich nach Norwegen, um nach Gerfalken zu suchen. Die Falken sollen durch Russland nach Anatolien gebracht werden. Falls uns das gelingt, bekommt jeder von euch einen Anteil am Gewinn. Freu dich nicht zu sehr, Raul. Wenn ich von etwas überzeugt bin, dann davon, dass nicht jeder, der diese Reise antritt, auch ankommen wird. Das ist alles, was ihr im Moment wissen müsst.»

Hero sah zu Boden. Wayland starrte vor sich hin, als würde er über etwas ganz anderes nachdenken. Raul aber grinste und hob seinen Becher. «Ein Vermögen oder ein Grab!» «Ein Grab ist wahrscheinlicher. Reiter werden Beschreibungen von uns in jede Festung im Norden bringen.» Vallon ließ seinen Blick über die Versammelten schweifen. «Sehen wir den Tatsachen ins Auge. Wir sind leicht zu erkennen. Ulf hat angeboten, uns morgen das erste Stück zu führen. In einem Tag oder zwei erreichen wir stärker besiedeltes Gebiet. Falls nötig, reisen wir bei Nacht. Wenn wir das Tiefland erreicht haben und den Landstraßen folgen müssen, teilen wir uns auf. Wayland und Raul werden als Späher ein Stück voraus unterwegs sein und nach sicheren Plätzen suchen, an denen wir essen und schlafen können. Richard und Hero bleiben bei mir. Jeden Abend treffen wir uns wieder.»

Noch spät in der Nacht lag Vallon wach, und seine Gedanken kreisten, während die Mäuse im Stroh raschelten. Auch Hero konnte nicht schlafen. Da erklang ein Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte, und Hero fuhr keuchend von seinem Lager auf. Ein geisterhafter weißer Schatten glitt von dem Balken über ihm und verschwand durch einen Spalt im Dachgiebel. Er bekreuzigte sich.

«Das war nur eine Eule», sagte Vallon.

«Dieser Vogel ist ein Unglücksbote.»

«Sag mir lieber, mit welcher Frage du dich quälst.»

«Herr, habt Ihr wirklich vor, eine Expedition nach Norwegen zu führen?»

«Ich denke schon.»

«Verzeiht mir, Herr, aber nach allem, was wir durchgemacht haben, erscheint es doch widersinnig, eine weitere und noch gefährlichere Reise zu unternehmen.»

«Nicht widersinniger als alles Bisherige. Als sich unsere Wege gekreuzt haben, war ich auf dem Weg nach Konstantinopel. Dorthin will ich immer noch. Die Falken werden mich nur auf einer anderen Route hinführen.»

«Aber Russland ist sehr gefährlich. Cosmas hat mir erzählt, dass es in Gesetzlosigkeit versunken ist. Außerdem beherrschen die Nomaden die südliche Steppe. Wisst Ihr, was sie mit einem russischen Prinzen gemacht haben, der ihnen in die Hände gefallen ist?»

«Sie haben ihn langsam und genüsslich getötet, nehme ich an.»

«Und dann haben sie aus seinem Schädel eine Trinkschale gemacht.»

«Hero, ich werde in Frankreich immer noch gesucht. Ich nehme es lieber mit ein paar Wilden auf, als eine dritte Durchquerung meines Heimatlandes zu riskieren.»

«Es wäre gar nicht notwendig, durch Frankreich zurückzureisen.»

Vallon konnte sich schon denken, was Hero sagen wollte. «Ach ja?»

«Ihr schuldet Olbecs Familie nicht das Geringste. Im Gegenteil. Wir haben für Walter diese ganze beschwerliche Reise auf uns genommen, und wie haben sie es uns vergolten? Nicht nur, dass Drogo uns umbringen wollte, auch Olbec wollte uns ohne einen Penny wieder fortschicken.»