Totenstille. Dann erklang ein Geräusch, bei dem sich Vallons Nackenhaare sträubten. Der Hund, den alle für stumm gehalten hatten, hob den gewaltigen Kopf und stimmte jaulend in das Geräusch ein. Das klagende Heulen jagender Wölfe stieg auf, bis es den gesamten Wald zu erfüllen schien. Dann erstarb es und hinterließ eine schaurige Leere.
«Die Vorstellung ist beendet», schrie Raul. «Wenn du deinen Jungen lebend wiedersehen willst, folgst du uns nicht. Falls du tust, was ich sage, kannst du ihn unversehrt im nächsten Dorf abholen.»
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Eine Meile jenseits des Hinterhalts wurde der Wald von offenem Land abgelöst. Raul blies die Wangen auf. «Hauptmann, das war der längste Marsch meines Lebens. Mein Rücken kam mir vor wie eine einzige große Zielscheibe.»
Vallon sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. «Woher wusstest du, dass ich mit Rodrigo Diaz gekämpft habe?»
«El Cid? Das wusste ich nicht. Das waren nur Schausteller-Sprüche.» Er stolperte. «Oder etwa nicht?»
«Geh mit den anderen weiter.»
Raul entfernte sich. Hinter ihnen erstreckte sich der Weg wie ein Band aus schwärzlich angelaufenem Silber. Vor ihnen klang Hundegekläff aus der Ferne herüber. Vallon wischte sich mit dem Handrücken über die Augenbrauen. Er hatte das Gefühl, durch einen Albtraum gegangen zu sein.
X
An einem milden, bewölkten Nachmittag Anfang April standen die Vagabunden ein paar Meilen südlich von Stamford an einer belebten Kreuzung der Earninga Straete. Auf den umliegenden Feldern pflügten und säten die Bauern, und der gleiche Anblick bot sich auf allen Feldern, die sich bis zum Horizont erstreckten, so als wären die Bauern selbst Feldpflanzen.
Sie hatten eine Rast eingelegt. Mit ausgestreckten Beinen, die Ferse des einen Fußes auf die Zehen des anderen gestellt, lagen sie im Gras und beobachteten den vorbeiziehenden Menschenstrom auf der Straße. Niemand behelligte sie. Nachdem sie drei Wochen lang im Freien übernachtet hatten, sahen sie aus wie eine Bande durchtriebener Spitzbuben. Das Gleiche galt auch für so manch andere, die auf der alten Römerstraße unterwegs waren. Fuhrleute, Viehhändler, Herumtreiber und Flüchtlinge bevölkerten die Kreuzung, wo an ein paar recht und schlecht zusammengezimmerten Ständen und Buden Erfrischungen, Amulette und Horoskope feilgeboten wurden. Eine normannische Reiterschwadron kam vorbei, doch die Soldaten blickten auf ihrem Weg Richtung Süden und London weder nach rechts noch nach links. Raul furzte.
«Worauf warten wir?», fragte Hero.
Vallon stand auf und spähte die Fernstraße Richtung Norden entlang, wo sich in der milchigen Luft ein kleiner, aber sehr bedeutsamer Umriss abzeichnete. Er kam langsam näher, langsamer, als ein Mann geht, und immer deutlicher wurde ein Wagenzug aus vier großen Karren erkennbar, jeder von einem sechsköpfigen Ochsengespann gezogen und so hoch mit Ballen und Fässchen beladen, dass sie an Belagerungsmaschinen erinnerten. Peitschen zischten und knallten in der Luft. Zwei grobschlächtige Reiter flankierten die Wagenreihe, und Mastiffs mit kupierten Ohren hetzten zwischen den Rädern herum. Ein verwilderter Junge sprang von Wagen zu Wagen und schmierte die Achsen mit Schweinefett. Der Kutscher des ersten Karrens war mager wie ein Strick und sein Gesicht so faltig wie ein ausgedörrter Weinschlauch. Neben ihm saß der Führer des Wagenzugs, ein unglaublich dicker Händler, dem fette Halsfalten über den Pelzkragen hingen.
Vallon trat mit Raul auf die Straße und hob die Hand. Der Fuhrmann trieb die Mastiffs mit gezielten Peitschenhieben zurück. Vallon lehnte sich an die Zugstange, und Raul übersetzte. Als Hero bemerkte, wie der Händler seine Schweinsäuglein auf ihn richtete, beschlichen ihn ungute Vorahnungen.
Geld wechselte den Besitzer. Vallon kam zurück, nahm Hero am Ellbogen ein Stück beiseite.
«Gehen wir nach London?»
«Du gehst nach London. Wir verabschieden uns hier.»
Hero hatte das Gefühl, von Hitze und Kälte zugleich überflutet zu werden. «Womit habe ich Euch verärgert?»
«Das hast du nicht. Die Wahrheit ist, dass unsere Reise von hier an noch gefährlicher wird, und dafür bist du nicht geschaffen.»
«Ich bin zäher als Richard.»
«Richard hat keine andere Wahl, als dieses Land zu verlassen. Du hingegen kannst aus deinem Leben etwas Besseres machen.»
«Aber ich habe geschworen, Euch zu dienen.»
«Ich entbinde dich von diesem Eid», sagte Vallon. Er küsste Hero auf beide Wangen und trat zurück. «Glaub nicht, deine Gesellschaft würde mir nicht fehlen. Die Abende werden nicht mehr dieselben sein, wenn du mit deinen endlosen Geschichten und Spekulationen nicht dabei bist.»
Es ging alles viel zu schnell für Hero, um Gegenargumente zu ersinnen. Der Fuhrmann ließ seine Peitsche knallen. Vallon hob den Arm. «Der Fahrpreis ist bezahlt. Der Händler ist ein Grobian, aber er wird dir nichts tun. Ich habe ihm erzählt, wir würden uns in London wieder treffen.» Er drückte Hero Geld in die Hand. «Es tut mir leid, mehr kann ich nicht entbehren. Ich weiß aber, dass du es auch so nach Hause schaffst. Widme dich deinem Studium. Schreib mir nach Byzanz. Bring mich mit deinen Erfolgen zum Staunen. Gott schütze und behüte dich.» Er drückte Hero die Schulter und ging weg.
Einer nach dem anderen kam, um Hero Lebewohl zu sagen. Richard schluchzte unverhohlen. Raul schloss Hero kräftig in die Arme. Wayland betrachtete ihn mit seinem kühlen Blick aus den blauen Augen, es hatte beinahe den Anschein, als wolle er ihm die Hand geben, aber dann nickte er doch nur und wandte sich ab.
Der Wagenzug setzte sich in Bewegung. Hero sah seinen Gefährten nach, die auf der Römerstraße Richtung Osten gingen. Vallon warf keinen einzigen Blick zurück.
Hero weinte. Sein Leben lang hatten ihn die Männer enttäuscht, die er geliebt hatte. Sein Vater hatte sämtliche fünf Schwestern auf den Knien gewiegt, und dann war er drei Monate vor der Geburt seines einzigen Sohnes gestorben. Cosmas, der Mann, von dem er so viel gelernt hatte, war kaum einen Monat bei ihm geblieben. Und nun schob ihn Vallon, der Herr, dem er Treue bis in den Tod geschworen hatte, einfach ab, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
Nun war er wirklich allein. Seine Gefährten waren in der einen Richtung hinter dem Horizont verschwunden, der Wagenzug in der anderen. Nur die Leibeigenen auf den Feldern blieben an Ort und Stelle, tief gebeugt und elend unter dem trüben Himmel. Hero raffte sich auf und begann Richtung London zu schlurfen.
Am abendlichen Lagerfeuer erklärte Vallon den Übrigen, dass sie die erste Etappe ihrer Reise beinahe hinter sich hätten. In zwei Tagen würden sie Norwich erreichen.
«Morgen besorgen wir uns drei Maultiere und neue Kleidung. Und übermorgen gehen wir einzeln nach Norwich. Richard, du reitest voraus, suchst uns eine Unterkunft und nimmst Kontakt mit dem Geldverleiher auf. Wayland wird dich bis zur Stadtmauer begleiten. Dann reitest du allein weiter. Das ist sicherer. Benutz einen falschen Namen und behaupte, du wärst in Familienangelegenheiten unterwegs.»
«Einer der Wachleute könnte mich erkennen. Wenn die Nachricht von unseren Verbrechen in Norwich angekommen ist …»
«Sollte es dazu kommen, sag ihnen die Wahrheit über das Lösegeld und den Geldverleiher. Denk daran, dass du immerhin Olbecs Sohn bist. Also lässt du dir von einem gemeinen Soldaten überhaupt nichts sagen. Wayland, wenn Richard Schwierigkeiten bekommt, warte am Westtor der Stadt auf uns. Raul und ich treffen dich dort bei Sonnenuntergang. Wir geben uns als Anführer einer militärischen Pioniereinheit und dessen Gehilfe aus.»
«Alle Tore werden bewacht», sagte Raul. «Die Wachen werden Papiere sehen wollen.»
«Lady Margaret hat mir Dokumente mit dem königlichen Siegel gegeben. Kein Soldat würde es wagen, sie zu öffnen.» Vallon verschränkte die Finger hinter dem Kopf. «Tja», sagte er gähnend, «übermorgen Abend werden wir wie die Fürsten speisen und unter Gänsedaunen schlafen.»