Er trat auf eine Sandbank hinaus und ließ sich von der salzigen Brise umwehen. Das Sonnenlicht schillerte auf dem Wasser wie in Glasscherben. Über seinem Kopf rauschte etwas, und als er aufsah, entdeckte er einen Schwarm Watvögel, die im Kreis flogen und sich dann wieder dicht zusammendrängten, als würde Rauch in ein Abzugsloch zurückgesaugt. Ein Falke stieß hernieder und schwang sich wieder in die Lüfte, blickte über die Schulter und kippte in den nächsten Sturzflug. Erneut wich der Vogelschwarm aus und schloss sich mit sanftem Flügelrauschen neu zusammen. Der Falke suchte eine Stelle, an der er in den Schwarm stoßen konnte, und die Watvögel drehten im Flug ab und änderten ihre Richtung, sodass sie in einem Moment wie eine schwarze Wolke am Himmel standen und im nächsten vor dem gleißenden Meer beinahe unsichtbar wurden.
Dann breitete der Falke die Flügel aus und segelte zu einem gebleichten, hochaufragenden Stück Treibholz hinunter, auf dem er sich putzte und sein Gefieder aufschüttelte, bevor er in niedrigem Flug übers Meer verschwand.
Als sich Wayland umdrehte, stand ein Mädchen vor ihm auf der Wiese. Es hatte langes, blondes Haar, das die Sonne im Gegenlicht aufleuchten ließ. Waylands Eingeweide zogen sich zusammen. Er beschirmte seine Augen und sah, dass der Hund auf das Mädchen zurannte.
«Nein!»
Der Hund blieb überrascht stehen. Unsicher mit dem Schwanz wedelnd, sah er zu Wayland zurück. Wayland hastete zu ihm und hielt ihn fest. Sein Herz raste. Das Mädchen beobachtete ihn mit Augen, die so klar waren wie Wasser.
«Warum siehst du mich so an?», fragte das Mädchen.
Wayland fuhr sich mit der Hand über die Augen. «Es ist nichts. Ich dachte, du wärst … Es ist unwichtig.»
«Das ist der größte Hund, den ich je gesehen habe. Kann ich ihn streicheln?»
«Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Man weiß nie, wie er auf Fremde reagiert.»
Doch da riss sich der Hund los, stellte sich auf die Hinterbeine und legte dem Mädchen die Pfoten auf die Schultern, sodass es rücklings umfiel. Das Mädchen lachte und schob den Hund weg. Er ließ sich auf die Seite rollen und wand sich wie ein Welpe. Das Mädchen kniete sich hin und kitzelte ihn an der Brust. Dann sah es auf und strich sich dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht. In Wayland schien etwas zu zerbrechen.
«Er mag mich.»
«Du erinnerst ihn an jemanden.»
«Wie heißt er?»
«Er hat keinen Namen. Ich bin nie dazu gekommen, einen für ihn auszusuchen.»
«Das ist dumm. Alle Hunde haben einen Namen. Wie die Menschen. Ich heiße Syth. Und du?»
«Wayland.»
«Du redest komisch. Wo wohnst du?»
«Nirgendwo. Ich komme aus Northumbrien.»
«Ist das weit weg?»
«Ja.»
«Ich kenne keinen Ort, der weiter weg ist als Lynn. Außer dem Himmel. Suchst du Snorri?»
«Das kommt darauf an. Hat er ein Schiff?»
«Nein, nur einen kleinen Stechkahn.»
Abgesehen von dem blonden Haar und den großen hellen Augen, hatte das Mädchen kaum Ähnlichkeit mit Waylands Schwester. Syth war so mager, dass er sie beinahe für ein Hungerleiderkind gehalten hätte, doch in Wahrheit konnte sie kaum jünger sein als er selbst. Ihr fadenscheiniges Gewand war am Halsausschnitt eingerissen, sodass eine ihrer blassen schmutzigen Brüste beinahe vollständig entblößt war.
Sie verschränkte die Arme und packte ihre knochigen weißen Schultern mit den Händen. «Du starrst mich dauernd an. Das ist unanständig.»
«Es tut mir leid.»
«Ich verzeihe dir.»
«Was?»
«Ich verzeihe dir.»
Plötzlich wurde er von Trauer überwältigt. «Ich muss gehen», sagte er. «Wo ist der kürzeste Weg nach Lynn?»
Sie antwortete nicht.
«Macht nichts. Ich finde auch so hin.» Er bohrte die Spitze seines Schuhs in die Erde. «Na dann.»
«Ich habe sein Schiff noch nie gesehen. Er hat es im Marschland versteckt.»
Wayland sah zu dem schwankenden Schilf hinüber. «Weißt du, wann er zurückkommt?»
«Bald. Er ist fischen. Er ist schon seit heute früh weg.»
«Wie ist er?»
«Ekelhaft.»
Wayland setzte sich auf den Boden. Das Mädchen setzte sich auch. Sie betrachteten einander. Wayland brach ein Gebäckstück in zwei Hälften. «Wie heißt du noch mal?»
«Syth. Das habe ich dir schon gesagt. Du solltest besser aufpassen.»
Er unterdrückte ein Lächeln. Das hatte allerdings sehr nach seiner Schwester geklungen.
Sie nahm das Gebäckstück in beide Hände und schlang es, gelegentlich zu ihm hinüberblickend, wie ein Tier hinunter. Sie war so schmal, dass er glaubte, ihre Knochen durch die Haut schimmern zu sehen. Er gab ihr seine eigene Hälfte des Gebäcks. «Ich habe schon gegessen», sagte er und stand auf, um aufs Meer hinauszusehen.
«Da kommt er.»
Vom Marschland her stakte sich ein Mann einhändig heran, die Stake an der Brust und dem Stumpf seines anderen Arms abgestützt. Seine Stirn war entstellt – eine Verbrennung war bis auf den Knochen gedrungen. Er war eine hässliche Erscheinung mit gedrungenem Körperbau, fliehendem Kinn und einem spärlichen, mit Essensresten und Rotz verklebten Bart.
Er ging an Land, band den Kahn fest und hob einen Binsenkorb heraus. Ohne Wayland zu beachten, griff er in den Korb, zog einen riesigen Aal heraus und ließ ihn vor dem Mädchen baumeln. Ein sich windendes, schwarz-bronzefarbenes Durcheinander füllte den Korb zur Hälfte.
«Das sind mal ein paar Schönheiten, was? Hab einen Ertrunkenen im Graben gefunden, den hab ich ihnen hingeworfen, damit sie sich fett fressen. Haben ihn in einer Nacht bis auf die Knochen blankgeknabbert. Die verkauf ich in Norwich. Die Normannen mögen Aal. Werd ihnen nicht erzählen, wie sie so dick geworden sind.» Er sprach in einer merkwürdigen Mischung aus Nordisch und einem Dialekt aus der Gegend, der klang, als würde jemand durch schmatzenden Schlick waten.
Wayland trat vor ihn. «Wie ich höre, bist du ein Schiffsmeister.»
«Haben sich schon ne Menge Fremde in den Marschen verirrt», sagte Snorri mit erhobener Stimme. «Stimmt doch, Schätzchen, oder?»
«Wir wollen das Schiff mieten.»
Snorri deutete auf seinen Kahn. «Die kleine Nussschale. Kauft euch selber eins. Das da brauch ich zum Fischen.»
«Ich rede von der Knarr, mit der du von Norwegen hierhergesegelt bist.»
Snorri lachte schnarrend. Mit ausgebreiteten Armen drehte er sich im Kreis. «Siehst du hier irgendwo eine Knarr?»
«Ich meine die Knarr, die du in den Marschen versteckt hast.»
Snorri warf einen finsteren Blick auf das Mädchen. «Kannst dich ja danach umsehn, wenn du willst. Von mir aus das ganze Jahr. Aber ich will keine Klagen hören, wenn dir was passiert. Die Marschen und ihre Wasserläufe sind nichts für Leute, die nicht damit geboren und aufgewachsen sind.»
«Wir bezahlen dich dafür.»
Zum ersten Mal sah Snorri Wayland direkt an. «Verzieh dich. Du hast doch sowieso nichts außer den Hosen über deinem blanken Hintern.»
Wayland zog die Schnur des Beutels auf, sodass schimmerndes Silber sichtbar wurde. Snorri fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Wayland zog den Beutel wieder zu.
«Zeig mir das noch mal.»
Wayland steckte den Beutel weg.
Snorri grinste anzüglich. «Ich verkauf dir das Mädchen, wenn du scharf auf sie bist. Würde ’ne hübsche Mutter abgeben. Und ’ne gute Frau.»
Wayland warf dem Mädchen einen Blick zu. «Sie gehört dir nicht. Du kannst sie nicht verkaufen.»
«Hat doch sonst keinen. Die ganze Familie ist tot. Wenn ich nicht so ein Menschenfreund wär, läg sie auch schon unter der Erde. Hab dich nicht so. Sie ist noch Jungfrau, soweit ich weiß. Hütet hier mein Haus. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht wüsste, wie sie einen Kerl um den Verstand bringt.» Er ließ seinen Armstumpf auf- und niederfahren. «Sie ist meine rechte Hand, wenn du verstehst, was ich meine.»