Das Mädchen raffte sein fadenscheiniges Gewand zusammen und lief weg.
«Die kommt wieder», sagte Snorri. «Kann ja sonst nirgends hin.»
Wayland kämpfte den Drang nieder, den Mann zu erwürgen. Der Hund fletschte drohend die Zähne. «Ich habe kein Interesse an dem Mädchen.»
«Wenn ihr so dringend ein Schiff braucht, wieso mietet ihr dann keins in Norwich oder Lowestoft?»
«Komm», sagte Wayland zu dem Hund.
«Wo willst du denn jetzt hin?»
Wayland wedelte unbestimmt mit der Hand und ging.
Er hörte hastige Schritte hinter sich. Snorri zupfte ihn am Ellbogen. «Ich will dieses Silber prüfen.»
Wayland hielt ihm eine Münze hin. Snorri grabschte danach, leckte daran, biss darauf und schloss die Augen wie ein Feinschmecker, der eine Delikatesse verzehrt. Wayland nahm ihm die Münze wieder aus der Hand.
«Zufrieden?»
«Deutsch. Davon kann man nie genug haben.»
«Hast du nun ein Schiff oder nicht?»
«Komm mit, Meister, dann sehen wir, was Snorri anzubieten hat.»
Er stieg auf den Kahn und streckte Wayland die Hand hin. Wayland stieg ohne seine Hilfe ein. Snorri stieß den Kahn vom Ufer ab.
«Die Leute sagen, ich wär nicht ganz richtig im Kopf, aber das is mir egal. Tatsache ist, dass ich den Scharfsinn eines Mannes danach beurteile, für wie dumm er mich hält. Snorri Snorrason lässt sich nämlich nich austricksen. In den Marschen ist Snorri König. Wenn mir was passiert, findest du nie im Leben allein hier raus.»
Wayland sah ihn über ein Messer streichen, dessen Klinge bis auf einen schmalen, spitzen Metallgrat abgenutzt und heruntergeschliffen war.
Snorri kicherte. «Ich mach dich nervös, stimmt’s? Wirst ganz zappelig.»
«Wirf mal einen Blick auf den Hund. Los, sieh ihn an.»
Snorri schaute auf den Hund. Sein Grinsen erstarrte.
«Wenn hier einer nervös ist, dann ist es der Hund. Wie du gesagt hast, allein kommst du hier nicht raus.»
Snorri steuerte von dem breiten Flussarm weg in ein sumpfiges Dickicht. Manche Wasserläufe waren so breit wie Felder, andere fast schmaler als der Stechkahn. Wayland und der Hund saßen im Bug und bewunderten die üppige Tierwelt. Riesige schwarze Blesshuhnschwärme flüchteten über die Gewässer wie panische Mönche. Enten drängten sich auf den Sandbänken zusammen. Gänsescharen rauschten über sie hinweg. Vögel, deren Wuchs und Gefieder Wayland noch nie zuvor gesehen hatte, stelzten und gackelten im Schilf.
Snorri zeigte grinsend seine gelblichen Zähne. «Weißt schon nicht mehr, wo du bist, stimmt’s?»
Wayland sah sich um. Sie befanden sich mitten in einem Gewirr aus Wasserläufen und Meeresarmen. Auch die Sonne half wenig bei der Bestimmung der Richtung, in die sie fuhren. Einmal hatte er sie vor sich, und in der nächsten Minute schien sie von der Seite auf den Kahn. Als er sich umdrehte, konnte er nicht einmal sagen, auf welchem Wasserlauf sie gerade eben noch gefahren waren.
«Habe fünf Jahre gebraucht, um den Weg hin und zurück zu finden, ohne mich zu verirren. Und auch das nur, weil ich bei einem Mann in die Lehre gegangen bin, dessen Leute in diesen Marschen gelebt haben, seit sie nach der Sintflut hier gestrandet sind. Er hatte sechs Schwimmzehen an jedem Fuß, und das ist wahr. Hat mir alles beigebracht, was er wusste.» Snorri tippte sich an die Schläfe. «Alles hier drin. Schilder oder Wegmarken gibt’s hier keine. Die Wasserläufe ändern sich von Jahr zu Jahr, von Sturm zu Sturm.»
«Ich habe gehört, du hast bei Stamford Bridge gekämpft.»
Darauf sagte Snorri nichts, und nach einer Weile wartete Wayland nicht mehr auf eine Antwort.
Schließlich sagte Snorri: «Zweihundert Schiffe waren von Norwegen gekommen, und als der Kampf vorbei war, konnten nur noch dreißig heimsegeln. Auf dem Rückzug hab ich meinen Arm verloren, und die beiden, mit denen ich zusammen war, hatten noch schwerere Verletzungen. Der eine hatte seine eigenen Därme auf dem Schoß liegen. Die zwei waren noch am selben Tag tot, und die Segler waren verschwunden. Auch wenn ich noch beide Arme gehabt hätte, kein Mann kann allein nach Norwegen rudern. Drei Tage lang hat der Wind mich vor sich hergetrieben, und am vierten Tag bin ich hier angeschwemmt worden. So hat mich mein Meister gefunden.»
«Hat er dir das Brandzeichen auf die Stirn gemacht?»
Snorri fasste sich an die Stirn. «Das ist eine Lüge. Das ist in der Schlacht passiert.»
Vor sich hin murrend stakte er weiter. Sie kamen aus einem Wasserlauf zu einem See, wo ihr Erscheinen einen Reiher aufschreckte, der sich flügelklatschend in die Lüfte hob. Snorri hörte auf zu staken. Der Kahn glitt übers Wasser, bis er am Ufer auf Grund lief. Die kleinen Riffelwellen legten sich.
Vorsichtig stieg Wayland auf das schwammige Uferland. Snorri zog den Kahn aus dem Wasser und führte Wayland zu einem Schilfdickicht. Kurz davor blieb er stehen.
«Ich sehe nirgends ein Schiff», sagte Wayland.
«Sollst du ja auch nicht.»
Wayland musterte die Umgebung erneut.
«Es liegt genau vor dir», sagte Snorri. Dann packte er das Schilfdickicht und zog daran. Eine sechs Fuß breite Öffnung tat sich auf, und Wayland hatte einen Abschnitt Klinkerbeplankung vor sich.
«Das ist sie. Die Shearwater. Mein Seebezwinger, mein Wellenreiter.»
«Sie ist ein Wrack.»
Snorri wurde wütend. «Sie ist nicht einmal sieben Jahre alt.» Er klopfte an den Schiffsrumpf. «Hörst du das? Eiche. Kernholz. Kein einziger Wurm drin. Und sieh dir das mal an», sagte er und deutete auf den Vordersteven. «Der stammt von einem Schiff, das unter Knut mit einer Flotte nach Norwegen gesegelt ist. Aus einem einzigen Stamm gehauen. Was sagst du dazu?»
«Mein Großvater hat mit Knut gekämpft.»
Snorri betrachtete ihn. «Könnte sein, dass du einen Tropfen Wikingerblut in dir hast.» Er strich über die Nieten, von denen die Planken zusammengehalten wurden. «Hat mein Onkel geschmiedet, war der geschickteste Schmied in ganz Hordaland. Und hier», sagte er, beugte sich über das Dollbord und deutete auf die Verbindung zwischen den Planken und den unterhalb der Wasserlinie gelegenen Spanten. «Das ist kein billiger Fichtenwurzelbast. Das ist Walbein.»
Wayland schwang sich an Deck. Das Schiff war wesentlich größer, als er erwartet hatte. «Es hat ein Loch.»
«Klar hat sie ein Loch. Wenn sie unbeschädigt wäre, säße ich jetzt mit meinen Freunden daheim in Hordaland beim Ale.»
Das Schiff lag mit Schlagseite in einem versandeten Wasserlauf. Wayland blickte zu dem See zurück. «Die bringst du nie wieder hier weg. Das Wasser ist zu flach.»
«Nicht flacher als an dem Tag, an dem ich sie hierhergeschafft habe. Sie hat ohne Ladung weniger als zwei Fuß Tiefgang. Davon abgesehen schaust du in die falsche Richtung.» Snorri deutete mit seinem Armstumpf auf die gegenüberliegende Seite. «Der Fluss liegt nur ein klitzekleines Stück weiter da vorne.»
«Wie viele Männer brauchst du zum Rudern?»
«Oje, o weh, dieser Mann hat nicht die blasseste Ahnung von Schiffen. Das ist ein Segelschiff, du Holzkopf. Bei günstigem Wind kann ich ganz allein bis nach Norwegen segeln.»
«Und wenn der Wind nicht günstig ist?»
«Zur Not vier Ruderer, sechs wären besser. Über acht würde ich mich auch nicht beschweren.»
«Kann man das Schiff reparieren?»
Snorri strich stolz über den Rumpf. «Ein Schiff, das so gut gebaut ist wie meine Shearwater verkraftet eine Menge, bevor es nicht mehr seetüchtig ist. Sie heilt beinahe von selbst, genau wie ein lebendes Wesen.»
«Und wie lange dauert die Reparatur?»
«Immer langsam. So weit sind wir noch lange nicht.»
«Sag mir einfach, was getan werden muss.»
Snorri zwirbelte seinen schmutzigen Bart. «Erst mal braucht man Eichenholz für die neuen Planken. Und zwar nicht irgendeine alte Eiche, sondern einen Baum, der zweihundert Jahre lang auf Lehmgrund gewachsen ist und dessen Holz grün gespalten wurde. Außerdem müssen die Plankenverbindungen mit ölbehandelten Nieten gemacht werden, die bei schwerer See etwas nachgeben. Ein Schiff ist wie ein Pferd. Du willst, dass es dir gehorcht, egal, wie anstrengend der Ritt ist. Außerdem wär ein neues Segel aus dichtgewebter Wolle oder Leinen nötig. Es gibt guten Flachs aus Suffolk, aber die Wolle aus Norfolk ist haltbarer. Man müsste die Kalfaterung überprüfen, und dann noch …»