«Waräger?»
«Die kaiserliche Garde. Waren früher alles Wikinger, aber seit die Normannen eingefallen sind, haben auch viele Engländer bei ihnen angeheuert. Und zwar nicht nur einfache Leute. Da sind Lehnsmänner dabei und sogar ein oder zwei Grafen. Wenn du deine Zeit abgedient hast, gibt dir der Kaiser ein schönes Stück Land.»
«Willst du das machen?»
«Nein, das ist nichts für mich. Ich habe schon in genügend Kriegen gekämpft. Mein Plan steht fest. Ich eröffne ein Gasthaus, nehme mir eine Frau – vielleicht ein Sklavenmädchen aus Rus. Und ich kaufe meine Familie aus der Knechtschaft frei und versorge sie mit Land und ein paar Fischerbooten.»
«Wie groß ist denn deine Familie?»
«Vater ist bei dem Hochwasser umgekommen, das unseren Bauernhof zerstört hat. Mutter ist ein paar Monate später gestorben. Als ich von zu Hause weg bin, hatte ich drei jüngere Brüder und drei ältere Schwestern. Das war vor acht Jahren, also sind inzwischen vermutlich ein paar von ihnen gestorben. Aber einige leben bestimmt noch. Ich kann es kaum erwarten, ihre Gesichter zu sehen, wenn ich auftauche. Ich werde ein unglaubliches Fest geben.»
Wayland hatte Rauls Phantasien schon öfter gehört und ahnte, dass er sein Geld nur versaufen würde.
«Du hast mir nie etwas von deiner eigenen Familie erzählt.»
«Ein anderes Mal», sagte Wayland. Er betrachtete die Küstenlinie. Auf dem Wasser entdeckte er die Segel von zwei Fischerbooten auf der Fahrt nach Lynn.
«Nur eins macht mir Sorgen», sagte Raul.
«Und was?»
«Der Hauptmann. Man weiß nie, was er denkt, aber eins kann ich dir sagen, und zwar, dass er sich nicht in dieses Abenteuer gestürzt hat, um Gewinn zu machen. Wenn es so wäre, würde er unsereinem nicht so großzügige Anteile geben. Bei den meisten Befehlshabern, unter denen ich gedient habe, konnte man sich freuen, wenn man abgesehen von der Beute aus Plünderungen überhaupt ein bisschen Silber gesehen hat.»
«Wieso beschwerst du dich dann?»
«Wenn ich einem Mann Gott weiß wohin folge, weiß ich gern, warum er dorthin will.»
Ein Schwarm Watvögel landete an der Uferlinie. Dort trippelten sie mit so schnellen, hastigen Schritten weiter, dass ihre Beine an die Speichen eines rollenden Rades erinnerten.
«Dir muss doch auch aufgefallen sein, wie schlecht Vallon schläft», sagte Raul. «Ständig wälzt er sich herum, als würde ein Kobold auf seinen Schultern reiten.»
«Ich schlafe auch schlecht, wenn ich daran denke, was die Normannen gerne mit uns machen würden.»
«Das ist etwas anderes. Vallon ist zweifach vogelfrei – in Frankreich und in England. Ich habe gehört, wie Hero mit Richard darüber geredet hat.»
«Was hat er verbrochen?»
«Weiß ich nicht, aber es muss ziemlich ernst gewesen sein, wenn er so weit weg geflüchtet ist.»
Mit pfeifenden Rufen schwangen sich die Watvögel wieder in die Luft. Wayland verfolgte ihren Flug mit den Blicken.
Raul stand auf und hängte sich seine Armbrust über die Schulter. «Ich sage nur, dass der Kobold, der Vallon reitet, uns allen die Richtung vorgibt.»
Wayland ging zum Strand hinunter. Eine kleine, winkelförmige Welle erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Otter kam aus dem Wasser, schüttelte seinen Pelz, bis er in feuchten Spitzen hochstand, und hockte sich mit einem Fisch zwischen den Pfoten hin. Wayland kam bis auf sieben Schritt heran, bevor ihn das Tier bemerkte und ins Wasser zurücktauchte. Wayland hob den Fisch auf – ein hässliches, schiefes Wesen, das ihn an Snorri erinnerte. Der Otter kam an die Wasseroberfläche und beobachtete ihn, nur die schwarzen Augen und die bärtige Schnauze des Tiers waren zu sehen. Wayland warf ihm den Fisch zu, doch bevor er aufs Wasser traf, war der Otter schon wieder verschwunden.
Als er zurück auf die Düne gehen wollte, bemerkte er eine andere Bewegung. Eine Weihe glitt übers Schilf, das katzenartige Gesicht dem Boden zugewandt. Mit einem Mal scherte der Vogel aus, als sei er aus einem Traum erwacht. Ganz in der Nähe stiegen mit grellen Schreien zwei aufgescheuchte Schnepfen aus dem Schilf auf. Der Hund hatte nicht reagiert. Wayland befahl ihm, sich hinzulegen, ging ein Stück am Strand entlang und glitt ins Schilf.
Er trat vorsichtig auf, vermied jedes Geräusch, das lauter war als das im Wind raschelnde Schilf. So drang er ein Stück weit ins Marschland vor, beschrieb einen Halbkreis, und dann entdeckte er Syth. Sie stand geduckt mit dem Rücken zu ihm, hielt sich an einem Bündel Schilf fest, und beugte sich, ein Bein balancierend ausgestreckt, so weit aus dem Schilfbewuchs Richtung Strand heraus, wie sie es nur wagen konnte. Anscheinend hatte sie ihn beobachtet.
Ein breiter Graben lag zwischen ihnen. Wayland watete durch das knietiefe Wasser und war halb auf der anderen Seite, als irgendein Geräusch oder Instinkt sie dazu brachte, sich herumzudrehen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und sprang mit unglaublicher Schnelligkeit davon. Spritzend watete er aus dem Graben und rannte ihr nach. Wie ein Pfeil schnellte sie in dichtes Unterholz. Sie kannte die Marschen besser als er. Sie würde entkommen. Er wurde noch schneller, warf sich nach vorn und erwischte ihr Gewand in dem Moment, als sie einen Haken schlagen wollte. Der Stoff zerriss unter seiner Hand, und sie landete halbnackt im Morast. Er zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt, und warf ihr den zerlumpten Kittel hin. Sie griff danach und zog ihn bis zum Hals hoch. Keuchend starrten sie sich an.
«Warum spionierst du uns nach?»
Ihr Blick zuckte von rechts nach links.
«Hast du irgendwem erzählt, dass wir hier sind?»
Syth schüttelte den Kopf – ein einziges Mal, als müsse sie eine lästige Fliege vertreiben. Unter ihren großen Augen lagen dunkle Ringe, und ihre Knochen bewegten sich wie Schatten unter der Haut.
«Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?»
Sie ließ den Kopf sinken und begann am ganzen Körper bebend zu schluchzen. Beim Anblick ihres zarten Rückgrats fühlte sich Wayland unbeholfen und ratlos. Und noch etwas spürte er – aufkeimende Lust. Der Hund kam spritzend durchs Schilf gelaufen, hielt vor Syth an und begann ihr die Tränen von den Wangen zu lecken. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell.
«Warte hier», sagte Wayland. «Ich bringe dir etwas zu essen.»
Vallon überwachte die Arbeiten an der Vertiefung des Wasserlaufs, als Wayland auf die Insel kam. Stirnrunzelnd drehte er sich um. Wayland ging zu den Vorräten hinüber und nahm Brot, Gebäck, gebratenes Hammelfleisch, Käse – einfach alles, was ihm in die Hände fiel.
Vallon ging zu ihm hinüber. «Was machst du da? Du solltest Wache halten.»
«Der Hund schlägt an, wenn irgendjemand kommt.»
Wayland ging zum Boot zurück.
«Bleib stehen.»
Wayland blieb stehen. Er sah auf seine Füße hinunter, dann drehte er sich zu Vallon um.
«Ich brauche ein bisschen Geld.»
Die anderen hatten aufgehört zu arbeiten. Raul kam zu ihnen herüber.
«Ich kümmere mich um die Sache», sagte Vallon und wartete, bis Raul sich ein Stück entfernt hatte. «Wofür willst du das Geld haben? Es gibt nichts zu kaufen.»
«Ich brauche es ganz einfach.»
Vallon schien kurz in einen höchst interessanten Anblick hinter Waylands Kopf zu versinken. «Wenn du beschlossen hast, uns zu verlassen, werde ich dich nicht daran hindern. Aber du kannst nicht weg, bevor wir abgesegelt sind.»
«Ich will nicht weg. Ich will einfach … einfach …» Vallon erlebte zum ersten Mal, dass Wayland die Fassung verlor.
«Wie viel?»
«Was Ihr mir schuldet.»
Vallon sah ihm ernst ins Gesicht und ging dann zu dem Kasten mit dem Silber. Als er zurückkam, übergab er Wayland das Geld nicht sofort. «Ich hatte schon alle möglichen Kerle unter meinem Kommando – Diebe, Mörder, Vergewaltiger, jeden Abschaum, den man sich vorstellen kann.»